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Altbestand.digital – neue Formen der Kooperation zwischen öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken in Sachsen

Published onJun 27, 2022
Altbestand.digital – neue Formen der Kooperation zwischen öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken in Sachsen
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Abstract

Die Altbestände Öffentlicher Bibliotheken in Sachsen erfahren nicht zuletzt durch Provenienz- bzw.  NS-Raubgutforschung und Digitalisierung (neue) erhöhte Aufmerksamkeit. Sind die Altbestände der großen Stadtbibliotheken bekannt, stellt sich die Katalogisierungssituation an den kleineren Bibliotheken meist anders dar. Über die Städte und Gemeinden hinaus ist nur selten bekannt, welche Altbestände vorhanden sind, in welcher Größe, welchen Inhalts und welcher Provenienzen. Dies zu erforschen ist jedoch eine der Aufgaben der Koordinierungsstelle, die im Oktober 2021 an der Sächsischen Landesfachstelle für Bibliotheken geschaffen wurde. Mit der im Januar 2022 als Stabsstelle an die SLUB überführten Landesfachstelle besitzt die SLUB Kompetenzen in Provenienzforschung sowohl im wissenschaftlichen als auch öffentlichen Bibliotheksbereich.
Im Beitrag wird dargestellt, wie bisher in diesem Bereich Öffentliche und Wissenschaftliche Bibliotheken kooperieren und welche Perspektiven bestehen. Mit dem seit 2015 laufenden und ebenfalls an der SLUB angesiedelten Landesdigitalisierungsprogramm für Wissenschaft und Kultur, in dem bereits einige größere Öffentliche Bibliotheken Teile ihrer Altbestände digitalisiert haben, steht ein Instrument für die Digitalisierung, Präsentation und nachhaltige Langzeitarchivierung in einem integrierten Workflow zur Verfügung.  Zukünftig können in gemeinsamen Projekten mit der Landesfachstelle historische Bestände und Provenienzkennzeichen aus sächsischen Bibliotheken in digitaler Form zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise wird die Zusammenarbeit zwischen WBs und ÖBs in Sachsen wie kaum zuvor intensiviert, die in gemeinsamer Projektplanung, Beurteilung des Bestands (auch unter Aspekten der Provenienzforschung), Durchführung der Digitalisierung, Präsentation und Archivierung der Dateien besteht. Bereits bei der Projektplanung wird darauf geachtet, auch bürgerwissenschaftlich relevante Bestände zu berücksichtigen, mit denen im Sinne der Teilhabe in gemeinsamen Vorhaben zwischen ÖB und Bürgergesellschaft gearbeitet wird.

The old collections of public libraries in Saxony are receiving (new) increased attention, not least due to provenance and Nazi looted property research and digitisation. While the old holdings of the large municipal libraries are known, the cataloguing situation at the smaller libraries is usually different. Beyond the cities and municipalities, it is seldom known what old holdings are available, in what size, what content and what provenance. However, researching this is one of the tasks of the coordination office, which was created in October 2021 at the Saxon State Office for public Libraries. With the transfer of the State Office for public Libraries to the SLUB as a staff position in January 2022, the SLUB has competences in provenance research in both the academic and public library sector.
The article describes how public and academic libraries have cooperated in this area to date and what the prospects are. The saxon State Digitisation Programme for Science and Culture, which has been running since 2015 and is also based at the SLUB, and in which some larger public libraries have already digitised parts of their old collections, provides an instrument for digitisation, presentation and sustainable long-term archiving in an integrated workflow.  In the future, historical holdings and provenance labels from Saxon libraries can be made accessible in digital form in joint projects with the Landesfachstelle. In this way, the cooperation between scientific and public Libraries in Saxony will be intensified as hardly ever before, consisting of joint project planning, assessment of the holdings (also under aspects of provenance research), implementation of digitisation, presentation and archiving of the files. Already during project planning, care is taken to also consider holdings relevant to citizen science, which are worked with in the sense of participation in joint projects between public libraries and civil society.


1. Einleitung

Dass die Retrodigitalisierung spartenübergreifend wirkt und teilweise spartenübergreifende Unterschiede nivelliert, gilt ebenso innerhalb der Sparte „Bibliothek“ in den Bereichen Öffentliche und Wissenschaftliche Bibliotheken. Bei der Retrodigitalisierung tritt der Zugriff in den Vordergrund; das Eigentum, die besitzende Einrichtung und deren Zugänglichkeit in den Hintergrund. Mit dem digitalisierten Medium steht die Typologie wie Handschrift, Druck, grafisches Medium vor der Spartentypologie, also ob das Medium aus einem Archiv, Museum oder einer Bibliothek stammt. Von den besitzenden Einrichtungen werden Retrodigitalisate im Internet nachgewiesen und präsentiert, die heruntergeladen und weiterverwendet werden. Dabei spielt die Reichweitenfähigkeit der Präsentation eine große Rolle, um hohe Nutzungszahlen, z. B. auch in der Argumentation mit dem Unterhaltsträger, zu generieren, als auch das entsprechende (fachliche) Umfeld der Präsentation, besonders bei wissenschaftlich hochwertigen Digitalisaten.

Die Öffentlichen Bibliotheken, von denen nur wenige digitalisieren, verfügen im Allgemeinen weder über die Möglichkeiten einer öffentlichen Präsentation noch über die Langzeitarchivierung der produzierten Images. Öffentliche Bibliotheken, vor diese Aufgabe gestellt, werden deshalb entsprechende Partnerschaften mit Wissenschaftlichen Bibliotheken eingehen und deren Expertise im Nachweis der Digitalisate in nationalen und internationalen Verbünden und Katalogen nutzen. Dies bot und bietet für die Zusammenarbeit innerhalb der Bibliotheken unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher Trägerschaft neue Möglichkeiten, nicht nur für die Digitalisierung, sondern auch für die damit verbundenen Themen der Vermittlung und Kooperation mit der Gesellschaft (Bürgerwissenschaften), der wissenschaftlichen Zusammenarbeit (Digital Humanities) und weitere. Öffentliche Bibliotheken mit Altbeständen erhalten damit neue Kontexte innerhalb der bibliothekarischen, aber auch (bürger-)wissenschaftlichen Infrastruktur.

2. Das Landesdigitalisierungsprogramm für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsen in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken

Die Notwendigkeit der Digitalisierung, Präsentation und Langzeitarchivierung des Kulturerbes in Sachsen, besonders aus kleineren Einrichtungen, wurde erkannt und mündete in das Landesdigitalisierungsprogramm für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsen (LDP), das im Doppelhaushalt 2015/16 erstmals umgesetzt wurde und seitdem fortgesetzt wird.1 Das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) erarbeiteten 2014 die entsprechenden Grundlagen des Programms in den Verhandlungen zum Doppelhaushalt. Von Anfang an waren die bis heute drei bestimmenden Handlungslinien fixiert: die Massen- und Einzelstückdigitalisierung für Universitätsbibliotheken und andere (wissenschaftliche) Einrichtungen, die Langzeitarchivierung der daraus entstandenen Images sowie die Lizenzierung elektronischer Ressourcen für die sächsischen Hochschulbibliotheken. In den Jahren 2015 bis 2019 mit jährlich 2,5 Millionen EUR für alle drei Handlungslinien ausgestattet, stieg die Mittelzuweisung 2021/22 auf jeweils 2,75 Millionen EUR/Jahr. Das Programm ermöglicht damit auch Öffentlichen Bibliotheken, Teile ihrer Altbestände zu digitalisieren und auf der LDP-Webseite sachsen.digital zu präsentieren, verbunden mit der Langzeitarchivierung. Für Projekte standen zunächst die Wissenschaftlichen Bibliotheken im Vordergrund, da diese über große und erschlossene Altbestände verfügen; hinzu kamen die kommunalen Altbestandsbibliotheken und die Stadtbibliotheken mit größerem Altbestand und Sondersammlungen.

Begonnen wurde bereits in der ersten Laufzeit des LDP mit den Projektplanungen für zwei große Städtische Bibliotheken in Sachsen, der Stadtbibliothek Leipzig (Teil der Städtischen Bibliotheken Leipzig) und der Stadtbibliothek Chemnitz. Umgesetzt wurden beide Vorhaben zu Beginn der zweiten Laufzeit des LDP 2017/18. Letztere, die Stadtbibliothek Chemnitz, verfügt laut Handbuch der historischen Buchbestände über 6.100 Titel aus dem 16. bis 19. Jahrhundert, darunter wichtiger und bisweilen unikaler Bestand zur Regional- und Lokalgeschichte.2 Aufgrund des fehlenden Pflichtexemplars in Sachsen zwischen 1870 und 1938 sind in der SLUB aus diesen Jahren besonders beim Kleinschrifttum Desiderate zu verzeichnen. In der Folgezeit wurden und werden immer noch Lücken bei der Regionalliteratur durch Kauf und Annahme von Geschenken geschlossen, jedoch ist hier die Retrodigitalisierung ein wichtiger Beitrag bei nicht vorhandener und antiquarisch nicht zugänglicher Regionalliteratur.3 Hier kommt kommunalen und Gemeinde-Archiven, -Bibliotheken und -Museen neben ihren anderen Aufgaben eine wichtige Funktion zu, um Bestandslücken digital zu schließen. In dem Vorhaben mit der Stadtbibliothek Chemnitz wurden 207 Bände digitalisiert. Die Stadtbibliothek Leipzig konzentrierte sich bei der Auswahl eines ersten Bestands für die Retrodigitalisierung schnell auf die Musikalien des 15. bis 19. Jahrhunderts; dazu gehören u. a. 575 Handschriften, 1.325 Drucke und 1.400 Musiktheoretica der Sammlung Carl Ferdinand Beckers (1804-1877).4 Er hatte 1856 der Stadtbibliothek seine Sammlung übereignet, die somit als eine der wenigen Privatsammlungen zur Musikgeschichte und Musiktheorie fast komplett erhalten blieb. Digitalisiert wurden 1.181 Handschriften und Drucke.

Abb. 1: Startseite der digitalen Kollektion der Stadtbibliothek Chemnitz auf sachsen.digital

Aufgrund des kurz dargestellten Befunds der Jahre ohne Pflichtexemplarsrecht ist schnell offensichtlich, dass zum digitalen Lückenschluss nicht nur die großen Stadtbibliotheken, sondern auch die kleineren Kommunal- und Gemeindebibliotheken benötigt werden, von den Archiven ganz zu schweigen. Nun ist der Freistaat Sachsen eines der Bundesländer mit einer der größten Bibliotheksdichten in ganz Deutschland: Die sächsische Bibliothekslandkarte verzeichnet 450 öffentlich zugängliche Bibliotheken, deren Altbestand regional zum großen Teil unbekannt ist, zumal auch der Erfassungsgrad sehr differiert.5 So kommt es immer wieder zu Überraschungen beim Auffinden von Altbeständen, das bisweilen in Digitalisierungsprojekte mit Stadt- und Gemeindebibliotheken innerhalb des LDP mündet. Einer der Schwerpunkte in der Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen liegt auf der Digitalisierung historischer Tageszeitungen, deren Überlieferung – besonders der lokalen Blätter – in Sachsen als nicht gut zu bezeichnen ist. Tageszeitungen waren wie die anderen Drucke vom Pflichtexemplar ausgeschlossen und gehörten auch als zu kaufender Medientyp nicht zum Erwerbungsprofil der damaligen Königlichen Öffentlichen Bibliothek Dresden, der heutigen SLUB, da das vorgesetzte Ministerium dazumal entschieden hatte, dass die lokalen und regionalen Tageszeitungen nicht von der Königlichen Öffentlichen Bibliothek, sondern von den jeweiligen Gemeindearchiven zu sammeln seien. Wenn die Zeitungen überhaupt dahin gelangten, waren damit nach 1945 durch die politisch bedingten Neuordnungen des Archiv- und Bibliothekswesens Verluste verbunden. Schon Karl Röthig musste 1937 in seiner Dissertation über das Zeitungswesen der Kreishauptmannschaft Dresden wiederholt feststellen, dass diese oder jene Zeitungen nur vom Namen her bekannt und keinerlei Exemplare festzustellen seien.6

Wird durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LDP auf Spurensuche gegangen, um unbekannte Tageszeitungen, die damit auch nicht verfilmt vorliegen, zu finden, ist die Ausbeute groß. So konnte 2022 ein Digitalisierungsvorhaben mit der Gemeindebibliothek/dem Gemeindearchiv Ottendorf-Okrilla angestoßen werden, das die dort aufbewahrten Exemplare der „Ottendorfer Zeitung“ aus den Jahren 1912 bis 1938 umfasst, die eine Auflagenhöhe von lediglich 200 Exemplaren hatte, was für viele der lokalen Zeitungen gelten dürfte.7 Hinzu kommt, dass durch Vermittlung fehlende Jahrgänge vor 1912 und nach 1938 durch eine Privatsammlung in Ottendorf-Okrilla geschlossen werden können. Das LDP gibt also starke Impulse zur Recherche und virtuellen Bestandszusammenführung historischer Tageszeitungen zugunsten vor allem des Angebots für Nutzerinnen und Nutzer.

3. Digital Humanities und Öffentliche Bibliotheken

Über die bloße Digitalisierung gehen in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlichen und Öffentlichen Bibliotheken inzwischen einige Vorhaben hinaus. Besonders erfreulich ist es, wenn die Karl-Preusker-Bücherei Großenhain, quasi die „Ur-Volksbibliothek“ Sachsens, 2020/21 gemeinsam mit der SLUB ein entsprechendes Digitalisierungsprojekt initiierte und umsetzte. Zur Bedeutung Preuskers, dem Vielbeschäftigten im Verwaltungsdienst, Sonntagsschulwesen, Gewerbe, Volksbüchereiwesen, in der Archäologie, bei historischen Vereinen u. a. m., muss an dieser Stelle nichts geschrieben werden.8 Aufgrund der Vielfältigkeit des Preuskerschen Schaffens stellen besonders die 22 Bände seiner Selbstbiographie auf über 6.300 Seiten und seine anderen Handschriften über sein Leben eine wichtige Quelle zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte in Wechselwirkung mit der Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Durch die schwierige Handhabung der großformatigen Autobiographiebände, der Beilage von vielen Materialien und der konservatorischen Bedingungen (eingeklappte Seiten, eingelegte Objekte) wohnte dieser Quelle jedoch eine gewisse Nutzungsbarriere inne. Für beide Bibliotheksarten, öffentliche wie wissenschaftliche, stellt eine solche Überlieferung in der Zugänglichmachung eine echte Herausforderung dar – und nicht zuletzt auch für den Fachbetrieb, der die Digitalisierung umsetzte. Angesichts der Bedeutung und Reichhaltigkeit der Quelle für die Wissenskultur des langen 19. Jahrhunderts stellte sich schon bald in der Zusammenarbeit beider Einrichtungen, Karl-Preusker-Bücherei und SLUB/LDP, die Frage nach der Erschließung der Handschriften, die auf sachsen.digital präsentiert wurden.9

Abb. 2: Blick auf einige Handschriften Preuskers (Bild: Anja Hofmann, Karl-Preusker-Bücherei Großenhain)

Zugutekam diesen Überlegungen der Vorteil, dass alle Bände von einer Hand, der von Preusker, geschrieben wurden, was einer handschriftlichen OCR-Erfassung entgegenkommen würde. In der SLUB begann deshalb Ende 2021 die erste Testreihe einer Handschriften-OCR auf Larex-Basis mit Preuskers 22 Bänden Selbstbiographie.10 Zuerst wurde genügend Testmaterial intellektuell geschaffen, mit dem der Computer „lernen“ konnte, Preuskers Handschrift zu erkennen. Dieser Testlauf ist noch nicht abgeschlossen. Die bisherigen Ergebnisse ermutigen jedoch, den Weg weiter zu beschreiten, der damit auch in der Zusammenarbeit zwischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken neue Akzente setzen wird: in der Digitalisierung selbst, in der handschriftlichen Erschließung, im Generieren von wissenschaftlichen Fragestellungen, die auf dem Material aus Öffentlichen Bibliotheken basieren, und damit der Entwicklung von Drittmittelforschungsanträgen sowie der Einbindung der Bürgerwissenschaften vor Ort, die bestimmte Aussagen, Personen und Orte in der Selbstbiographie wesentlich besser erklären können. Auch das Training des Computers für die Handschriftenerkennung kann bereits unter bürgerwissenschaftlicher Teilnahme durchgeführt werden. Auch kleinere Öffentliche Bibliotheken stehen damit plötzlich an einem Knotenpunkt zwischen Altbestand, Wissenschaft, Bürgerwissenschaft und Vermittlung, der erst durch die Digitalisierung in dieser Form möglich gewesen ist.

Abb. 3: Automatisierte Texterkennung in einem der Bände der Lebenserinnerungen Preuskers

Auch mit anderen Öffentlichen Bibliotheken sind vergleichbare Vorhaben geplant, die einen gewissen Aufgaben- und Kompetenzzuwachs bedeuten. Die bisherigen Befunde der Überlieferung des Altbestands an sächsischen Öffentlichen Bibliotheken verlangten nach diesen Erfahrungen geradezu nach einer systematischen Herangehensweise.

4. Provenienzforschung und Digitalisierung an Öffentlichen Bibliotheken in Sachsen

Erste Adresse war zunächst das „Handbuch der Historischen Buchbestände“11, das jedoch bei kommunalen Einrichtungen nur die Bestände der wissenschaftlichen Stadtbibliotheken wie die Ratsschulbibliothek Zwickau oder die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften zu Görlitz beschreibt. Aufgenommen wurden auch die großen Stadtbibliotheken in Chemnitz und Leipzig; Dresden fehlt, obwohl hier auch ein kleinerer historischer Bestand existiert. „Klassische“ Öffentliche Bibliotheken in Mittel- und Kleinstädten oder gar Gemeindebibliotheken fanden laut Konzeption keinen Eingang in das Handbuch. Es liegt bis heute keine Gesamtübersicht über den Altbestand an sächsischen Öffentlichen Bibliotheken vor – quasi ein digitales Handbuch der historischen Buchbestände an Öffentlichen Bibliotheken. Zugegebenermaßen war das Interesse daran sowohl von Seiten der besitzenden Einrichtung als auch der Wissenschaft begrenzt und wurde von den umfangreicheren Beständen der Wissenschaftlichen Bibliotheken überstrahlt. Die geschilderten Befunde änderten nur langsam den Blick darauf. Dies ist der Befund für viele Jahre gewesen. Der Altbestand in den Öffentlichen Bibliotheken war, da für die Ausleihe und auch die Aufgaben von Öffentlichen Bibliotheken nicht relevant, aufbewahrt und gesichert, aber stand nicht zur Verfügung und war teilweise nicht katalogisiert. Zusammengefasst stellte sich die Ausgangslage so dar: Die Existenz von Altbestand war allgemein bekannt, aber es lag und liegt keine Gesamtübersicht vor, da nicht alle Bestände katalogisiert sind. Im Verbundkatalog für die Öffentlichen Bibliotheken kann recherchiert werden, der jedoch für die Ermittlung des Altbestands an Bibliotheken kaum geeignet ist.12

Durch die ins Blickfeld von öffentlichen Sammlungen gerückte Recherche nach Provenienzen erhielt der Altbestand Öffentlicher Bibliotheken eine neue Aufmerksamkeit und Relevanz. Mit dem Koalitionsvertrag der sächsischen Staatsregierung („Gemeinsam für Sachsen“, 2019 bis 2024) von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen erhielt die bereits betriebene Provenienzforschung an Öffentlichen Bibliotheken Verankerung mit einer Stelle und Anbindung an die Sächsische Landesfachstelle für Bibliotheken, die zum 1. Januar 2022 an die Sächsische Landesbibliothek –  Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) angegliedert wurde:

Wir definieren die Aufgaben und Strukturen der Landesfachstelle für Bibliothekswesen neu und gliedern sie an die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) an. Dort werden wir eine Koordinationsstelle einrichten, welche die sächsischen Kommunen bei der wissenschaftlichen Suche nach NS-Raubgut in öffentlichen Bibliotheken, der Restitution und der Aufarbeitung für die Öffentlichkeit unterstützt.13

Diese Konstruktion führte die bereits an der SLUB schon seit vielen Jahren betriebene Provenienzrecherche mit der zu etablierenden an Öffentlichen Bibliotheken zusammen, bündelte diese Thematik bezüglich der Druckwerke in einer Institution und erfüllte damit zumindest teilweise eine wichtige Forderung der Provenienzforschung nach einer zentralen Instanz.

Von den Öffentlichen Bibliotheken in Sachsen hatte dabei die Stadtbibliothek Bautzen eine Vorreiterrolle inne. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste förderte hier seit 2014 ein Vorhaben zur Provenienzermittlung.14 Neben Beständen aus Gewerkschaftsbibliotheken, die 1933 in Bautzen beschlagnahmt wurden, konnten Bücher aus der Sammlung von Georg und Edith Tietz (Warenhaus Tietz, nach der „Arisierung“ 1934 „Hertie“) ermittelt werden, die nach 1945 an die Stadtbibliothek gelangten.15 Viele Jahre wurde angenommen, diese Bücher seien von der sowjetischen Trophäenkommission mitgenommen worden. Diese für die Öffentlichen Bibliotheken in Sachsen beispielhaft zu nennende Provenienzforschung sensibilisierte auch andere Einrichtungen dieser Sparte und nicht zuletzt auch die Politik für dieses Thema. Seit 2018 besteht die AG Provenienzforschung in Sachsen, die Mitarbeitende aus Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken und der Wissenschaft vereint.16 Besonderes Augenmerk liegt auf den Enteignungen und Beschlagnahmungen von Büchern durch die Nationalsozialisten, durch die Bodenrefom in der Sowjetischen Besatzungszone und durch die „Republikflucht“ nach Westdeutschland.17

Die Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken in der Provenienzforschung ist also gegeben und belastbar. Mit dem LDP verfügen die sächsischen Öffentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken unabhängig von der Trägerschaft über ein niedrigschwelliges und zugleich schlagkräftiges Programm zur Digitalisierung von Beständen, Sammlungen und besonderen Einzelstücken in Kulturerbeeinrichtungen Sachsens, das an keine Einreichungsfristen, Beiräte und anderes gebunden ist.

Abb. 4: Nachweis von Provenienzen in der Bilddatenbank der Deutschen Fotothek der SLUB

Der Begriff „Altbestand“ wurde bereits mehrfach in diesem Text verwendet und es soll deshalb erläutert werden, welchen Zeitraum er in dem Vorhaben einschließt. Da die NS-Raubgutforschung der Ausgangspunkt des Projekts ist, wurde sich darauf verständigt, den Begriff „Altbestand“ für alle Drucke mit Erscheinungsjahr bis 1945 anzuwenden. Durch den Bezug auf das NS-Raubgut und damit vor 1945 Erschienenes unterscheidet sich diese Festlegung von anderen Definitionen, die z.B. den Begriff „Altbestand“ nur für die Drucke anwenden, die noch dem handwerklichen (Hadernpapier-) Buchherstellungszeitalter, also bis circa 1850, entstammen. Dies stellt die Grundlage für die Öffentlichen Bibliotheken und das LDP dar. Erstere profitieren in der Arbeit zur Provenienzforschung von den Erfahrungen der Wissenschaftlichen Bibliotheken, hier der SLUB. Die für den SLUB-Bestand ermittelten Provenienzmerkmale wurden in der Bilddatenbank der Abteilung Deutsche Fotothek erfasst und präsentiert.18 Dies gilt auch für die der Stadtbibliothek Bautzen.19 In Vorbereitung befindet sich eine Provenienzdatenbank, die die einfache Recherche nach Provenienzmerkmalen erlaubt und es damit allen Einrichtungen, Öffentlichen wie Wissenschaftlichen Bibliotheken, aber darüber hinaus auch Museen und Archiven, ermöglicht, zu recherchieren, zu vergleichen und mit den eigenen Erkenntnissen abzugleichen.

Die Koordinierungsfunktion im Umgang mit Provenienzen an Öffentlichen Bibliotheken kommt der Sächsischen Landesfachstelle für Bibliotheken zu, die seit 2021 eine Struktureinheit der SLUB ist.20 An die Landesfachstelle ist die Koordinierungsstelle für NS-Raubgut angegliedert, die entsprechende Recherchen vornimmt. Die Koordinierungsstelle tritt systematisch auf Basis der Bibliotheksstatistik mit Öffentlichen Bibliotheken in Kontakt, besichtigt diese, berät und führt die Erfassung der Provenienzmerkmale durch. Die physischen Trägeroriginale – sprich: Bücher – sollen ebenfalls katalogisiert werden. Mit Fortführung des LDP 2023/24 findet die Digitalisierung geeigneter Bestände und die gesonderte Digitalisierung der Provenienzmerkmale statt, die in der geplanten Provenienzdatenbank nachgewiesen werden sollen.

Mit den Öffentlichen Bibliotheken führte die Landesfachstelle bereits mehrere Workshops und Informationsveranstaltungen zu diesem Thema durch. Im Herbst 2022 wird von der Landesfachstelle und dem LDP ein gemeinsamer Informationstag ausgerichtet, der das Thema Provenienz und Digitalisierung aufgreift. Nicht zuletzt ist dabei die Frage von wesentlicher Bedeutung, wie bei aufgefundenen Provenienzen mit Büchern, die zu restituieren sind, adäquat umgegangen wird. Auch hier stehen besonders die kleineren Öffentlichen Bibliotheken vor Herausforderungen, bei denen sie jedoch von der Landesfachstelle nicht allein gelassen werden.


Zu den Autoren

Konstantin Hermann ist Koordinator und Leiter des Landesdigitalisierungsprogramms für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsen. Er studierte Geschichte, Bibliothekswissenschaft und Evang. Theologie. Seit 2000 ist er an der SLUB tätig; 2014/2015 war er an das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst abgeordnet. Konstantin Hermann ist Mitglied der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

Robert Langer studierte Slavistik, Philosophie, Germanistik/DaF, Bibliotheks- und Informationswissenschaft und promovierte in Philosophie zu einem Thema der angewandten Ethik. Er leitet seit 2020 die Sächsische Landesfachstelle für Bibliotheken, die 2022 als Stabsstelle der SLUB Dresden angegliedert wurde. Er arbeitete in öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken und führte das erste NS-Raubgutprojekt an einer Stadtbibliothek durch. Seit über zehn Jahren gehört er zum Team des kultur.wissen.bilder.verlags.

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