Angesichts der Tatsache, dass Sammlungen in Bibliotheken und wichtige digitale Ressourcen nur mittels Suchmaschinen zusammengeführt werden können suggeriert der Artikel eine Abkehr von traditionellen Infrastrukturen von Bibliotheken. Er taucht ein in die Herausforderungen der „Digital Art“ und streicht die Wichtigkeit der Bibliotheken bei der Unterstützung der Forschung in diesem Bereich heraus. Um die sich entwickelnden Kunstformen adäquat darzustellen, braucht es neue Formen des Publizierens und der Präsentation.
The changing world of Art Libraries : Comments from the Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Munich
Given the coexistence of library collections and important digital resources often accessible only through search engines, the article notes a shift away from traditional library infrastructure and stresses the need to replace it. It further delves into the challenges posed by ‘Digital Art’ and the importance of art libraries in supporting researchers in this domain. It suggests that new forms of publication and presentation are needed to accommodate these evolving art forms.
Die derzeitige Situation in den großen Kunstbibliotheken, speziell denjenigen der deutschen kunsthistorischen Forschungsinstitute, wird geprägt von internationaler Sichtbarkeit der vollständigen bibliographischen Daten und Standortinformationen in Online-Katalogen, Koexistenz von raumgreifenden, teils überbordenden gedruckten Beständen und nur über Kataloge beziehungsweise Suchmaschinen auffindbaren, sozusagen unsichtbaren E-Books, E-Journals und sonstigen Ressourcen, sowie von den korrespondierenden Konsultationsweisen: Lektüre im Lesesaal, aber eben auch Remote-Zugriff vom institutionellen oder privaten Arbeitsplatz aus. Nicht nur in den Kunstbibliotheken spürbar ist eine gewisse Loslösung von der althergebrachten akademischen Bibliotheksinfrastruktur und von den klassischen Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Arbeitens zugunsten von letztlich von Algorithmen konditionierter Informationssuche über Google, vielleicht auch etwas professioneller über das beeindruckende Google Scholar. Google Scholar vermittelt den Online-Direktzugriff auf Texte, aber ebenso über den weltweit größten Verbundkatalog WorldCat auch auf Standortnachweise zu gedruckter Literatur in wissenschaftlichen Bibliotheken wie der des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, einschließlich der Weiterleitung zum institutionellen Katalog mit seinen speziellen Services. Es besteht eine hinter den Kulissen in den Bibliotheken wahrscheinlich viel zu wenig wahrgenommene und unzureichend analysierte Dichotomie zwischen den eigenen Angeboten und Möglichkeiten und der Weiterverarbeitung der Daten durch internationale Player, wo auch bereits der Schritt zur Indexierung und algorithmischen Bewertung von Textinhalten vollzogen ist. Man ahnt, dass lokale Kataloggestaltung, ein beliebtes bibliothekarisches Spielfeld, für das Publikum mittlerweile weniger entscheidend ist. Freilich ist die bibliographische Datengrundlage etwa im Google-Suchmaschinenkontext noch relativ wenig transparent und sicher auch noch weniger interessant und vollständig als etwa das Angebot des kubikat-Fachverbundkataloges www.kubikat.org der deutschen kunsthistorischen Forschungsinstitute in Florenz, München, Paris und Rom mit seinen bald 2,5 Millionen fachlich relevanten bibliographischen Nachweisen, die zum großen Teil auf intellektuellem Bestandsaufbau in den Instituten basieren. Das kubikat-Interface ist schlicht und mittlerweile recht rückständig, aber effizient. Es soll übrigens in absehbarer Zeit einen mehr dem State of the art entsprechenden und als Software zukunftsfähigen Nachfolger in Gestalt eines Discovery Systems erhalten. Letztlich unterliegen die Kunstbibliotheken ganz den allgemeinen nationalen und internationalen Entwicklungen des Bibliothekswesens. Wobei für die Visionäre der Zunft das Thema der Bibliothek im traditionellen Sinne eigentlich schon ziemlich erledigt ist. Dies ist zumindest der Eindruck nach der Lektüre des unlängst publizierten Themenheftes ‚Bibliothek 2040 – Utopien und Dystopien‘ der Fachzeitschrift ‚Bibliothek Forschung und Praxis‘ (BFuP, 2023). Im Kunstbereich sind wir sicherlich noch längst nicht so weit, aber auch hier ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie sich die wissenschaftliche Publizistik und ihre Gegenstände verändern und ob die Bibliotheken diesen Veränderungen gerecht werden.
Man kann aber auch immer wieder fragen, inwieweit das kunsthistorische Publikationswesen seinen Gegenständen gerecht wird. Das von den Herausgebern dieses Issues von 027.7 gewählte Thema ‚Digitale Bildwerke‘ ist in dieser Hinsicht besonders interessant. Wir denken hier weniger an digitale ‚Phototheken‘ wie Artstor, die selbstverständlich von den Kunstbibliotheken vermittelt werden. ‚Digitale Bildwerke‘ sind nicht nur in Form von Reproduktionen von Kunstwerken in der Kunstgeschichte omnipräsent, sondern natürlich auch als Kunstwerke oder Gegenstände der Bildforschung generell. Von den Kunstbibliotheken und ihren zukünftigen realen oder virtuellen Nachfolgeeinrichtungen erwarten Wissenschaftler, Studierende und Publikum auch in diesem Bereich Unterstützung. ‚Digital Art‘ wird mittlerweile als Gattungsbegriff verwendet, eine komplizierte Vielfalt von Gestaltungsformen mindestens seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zu Virtual Reality Art und Crypto Art abdeckend, mit fließenden historischen Übergängen etwa zur Copy Art bzw. Mail Art, Environment, Happening. Es ist hier nicht der Ort, auch nur annäherungsweise eine Übersicht über diese Gestaltungsformen zu versuchen. Es gibt hierzu inzwischen eine sehr umfangreiche kunsthistorische Fachliteratur. Als Einstieg eignet sich auch hier Wikipedia, zum Beispiel der Artikel ‚Digitale Kunst‘1. Dass Kunst größtenteils nicht als Original erfahren wird, worauf letztlich die Kunstbibliotheken beruhen, ist eine Grunderkenntnis. Bezogen auf die Gegenwartskunst hat überdies zuletzt James Voorhies mit seinem Buch ‚Postsensual Aesthetics: On the Logic of the Curatorial‘ (Voorhies, 2023) die komplexen, gerade auch die Kunstbibliotheken angehenden Konstellationen charakterisiert:
Today, many artists and curators strategically coordinate the real and conceptual qualities of the exhibition and book forms to complement each other. They look to the book as a valuable consolidator for this work because the book does something a physical exhibition cannot: it provides extended time with art and ideas, time that is elastic, time that is on the reader’s own terms, allowing information to become knowledge at whatever pace is individually desirable. (Voorhies, 2023, pp. 3-4)
Für das Gebiet der digitalen Bildwerke könnten sich hier aber besondere Bedingungen ergeben, die anders als beim althergebrachten Werkobjekt viel direkter zur umfassenden Werkerfahrung führen können. Ein Referenzwerk zu ‚Digital Art‘ stammt von Christiane Paul (Paul, 2023). Paul deutet an, dass sich neue Vermittlungswege ergeben dürften:
Whether digital art will find a permanent home in museums and art institutions or exist in different contexts – supported and presented by a growing number of art-and-technology centres and research-and-development labs – remains to be seen however. (Paul, 2023, p. 24)
Christiane Pauls Buch ist übrigens nicht online verfügbar. Die überaus verdienstvolle und sachkundige konventionelle Publikation besteht zu einem großen Teil aus prägnanten Einzelwerkbeschreibungen, zu denen jeweils in der Regel farbige Abbildungen gehören, Fotos oder Screenshots, maximal vier, oft eine einzige. Mit solchen ‚Stills‘ lässt sich natürlich ebenso wenig wie in der filmwissenschaftlichen Literatur die Prozessualität der Werke erfahren. Sie sind vielmehr ein Aufhänger für die Vorstellungen, die jeder Leser im Zusammenspiel mit dem Text entwickelt, und die prinzipiell bei direkter Konfrontation mit dem Werk verifiziert werden könnten. Nicht anders verhält es sich mit Büchern zum Beispiel über romanische Kirchen, mit dem Unterschied, dass es sich bei Computerkunst oft um ganz ortsunabhängige Werke handeln kann, deren Rezeption jedoch gewisse Anforderungen an das technische Equipment stellen mag. Genauso wie sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Online-Publikationen, man denke hier im weitesten Sinne auch an Websites von Museen und zu Ausstellungen, bereits etwa durch Zoomfunktionen und eingebundene Videos, eine auch mit großformatigen Printbüchern nicht machbare Erfahrung ermöglichen, dürfte sich aufdrängen, dass neue Publikationsformen gerade für das Schreiben über neue Formen der Kunst benötigt würden, zumal wenn diese nur im Netz existieren und dort direkt erfahrbar sind. In letzterem Fall stellt sich im Sinne des obigen Zitats von Christiane Paul auch die Frage nach der Rolle der Kunstbibliotheken, auch die nach ihren typischen Defiziten.
Aus der Sicht des Bibliothekspraktikers bestehen, wie oben angedeutet, Antagonismen der Praxis. So wird Wikipedia im täglichen Arbeitsprozess auch von Wissenschaftler*innen laufend genutzt, speziell zum Nachschlagen von ‚harten‘ Daten, wie sie für die weitaus weniger gut lesbaren, eher datenbankintern funktionierenden Normdaten spezifisch sind. Wikipedia gehört aber zu den Ressourcen, die typischerweise nicht aus Online-Bibliothekskatalogen referenziert werden. Ebenso wenig zuverlässig integriert in Bibliothekskataloge sind, mit Ausnahme der Metadaten für digitalisierte Bestände sowie für lizenzierte Online-E-Books und E-Journals, eine große Menge fachspezifischer Ressourcen wie Museumsdatenbanken, Websites wissenschaftlicher Datenbankprojekte, Ausstellungswebsites, auch und gerade von Galerien, sowie die tendenziell nur noch online angebotenen Auktionskataloge. Solche Ressourcen recherchiert man über Google bzw. direkt über die entsprechenden Websites, die man ihrerseits von Google aus aufruft. Hinsichtlich eines essenziellen Teils der fachspezifischen Ressourcen verlagert sich das Gewicht somit zuungunsten der Bibliotheken. Allerdings ist etwas zweifelhaft, ob die wissenschaftliche Community bereits in zureichendem Maße die entsprechende ‚infomation literacy‘ besitzt. Desbezüglich scheinen zwischen den Generationen erhebliche Unterschiede zu bestehen, immerhin mit dem kubikat als kleinstem gemeinsamen Nenner. Seit der Einführung des Begriffs der digitalen Kunstgeschichte ist mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen. Die 1997 im Verlag Reimer erschienene, von Hubertus Kohle herausgegebene Aufsatzsammlung ‚Kunstgeschichte digital‘ gibt es übrigens nicht als E-Book, was in diesem Fall sicher nur daran liegt, dass der Herausgeber das Thema bis heute in allen erdenklichen Formaten weiterbearbeitet hat. Die verbreiteten Methoden der kunsthistorischen Forschung haben sich aber ausweislich der Literatur insgesamt nicht dramatisch verändert, wenn auch die thematische Palette des Faches sich immer weiter differenziert und vergrößert.
Etablierte Anwendungsbereiche digitaler Techniken sind neben den zahlreichen kooperativen kunsthistorischen Forschungsdatenbanken2 die Bauforschung oder der Einsatz modernster Techniken zur materiellen Analyse von Kunstwerken wie Zeichnungen und Gemälde. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang ein erstaunlicherweise in einer bibliothekarischen Zeitschrift erschienener Aufsatz zu dem von Thomas Ketelsen geleiteten DFG-Projekt zur wissenschaftlichen Erschließung der niederländischen Zeichnungen in der Klassik Stiftung Weimar zur Lektüre empfohlen (Ketelsen & Wintermann, 2021). Waren die Kunstbibliotheken vor fünfundzwanzig Jahren gerade einmal in der Anfangsphase des EDV-gestützten Arbeitens, so gibt es heute eine nahezu umfassende Abdeckung des Schrifttums und seiner Aufbewahrungsorte in Online-Katalogen bzw. Metakatalogen, wie kubikat, KVK, WorldCat. Im Rahmen eines über fast zwei Jahrzehnte verfolgten und vollständig erfolgreich bewältigten Langzeitprojektes wurden zum Beispiel die zwei Millionen Karten umfassenden, bis 1996 geführten Zettelkataloge der ZI-Bibliothek zu aktuellen Formatanforderungen entsprechenden, mit Normdaten relationierten Datensätzen konvertiert und weltweit online auch für die Nachnutzung in anderen Datenkontexten bereitgestellt. Nunmehr schreitet das Online-Publizieren zumindest des akademischen Schrifttums exponentiell fort. Führende wissenschaftliche Verlage investieren sichtlich in eine adäquate Gestaltung von E-Books und auch in entsprechende Lektüreplattformen mit speziellen Features. Auch älteres Schrifttum wird in zunehmendem Maße in das kostenpflichtige E-Book-Angebot einbezogen, ergänzend zu den zahllosen Digitalisierungsprojekten für gemeinfreie Werke, dank derer die alte ‚Quellenliteratur‘ in großer Vollständigkeit weltweit online konsultiert wird. Dies alles impliziert noch keine Veränderung der grundlegenden Methodik zumal der Einzelforschung, wohl aber künftig neue Online-Präsentationsmöglichkeiten, die im gedruckten Buch nicht möglich waren3. Komplizierend kommt jedoch hinzu, dass über die oben erwähnte, von James Voorhies beschriebene Rolle des Buches für die im weitesten Sinne konzeptionell-politische Gegenwartskunst hinaus die Soziologie des Faches Kunstgeschichte und der Kunstwelt schlechthin eine geradezu inflationäre Produktion von gedruckten Publikationen begünstigt. Trotz aller vom WWW gebotenen Vermarktungsmöglichkeiten werden anscheinend mehr Bücher denn je gedruckt, großvolumig oder im Gegenteil preziös klein, reich bebildert und/oder zumindest mit raffiniertem Layout, überreichbar, präsentierbar. In einem unlängst erschienen Tagungsband mit dem Titel ‚Paradoxien des Finalen‘ (Bexte, 2021) schreibt Matthias Bruhn über ‚Das Ende der Publikation‘ (Bruhn, 2023). Er charakterisiert eine bekannte Situation: immer mehr Publikationen von immer mehr Verfassern zu einer geradezu atomisierten Themenvielfalt, die eigentlich nur noch in elektronischer Form angegangen werden kann, Unmöglichkeit der zureichenden Rezeption durch ein Individuum, nicht zuletzt Beeinflussung der Produktion durch „alle Arten von Mäzenatum, die den Kanon per Scheckbuch neu abstecken“ (Bruhn, 2023, p. 117). Gerade Bücher in gedruckter Form dienen weiterhin der Verewigung und Nobilitierung. Es gibt ja beispielsweise auch illustrierte Kunstbücher über Videogames, die nicht nur lukrative Fanartikel sind, sondern auch der Aufwertung des Themas mit Bezug auf die Kunstwelt dienen. Szenerien aus Videogames wie Monumentalgemälde zu inszenieren, erlaubt aber mitnichten die Vermittlung einer Erfahrung der prozessualen Werke für ein erweitertes Publikum. In diesem Zusammenhang muss freilich daran erinnert werden, dass Jahrzehnte von Happenings, Environments, Installationen, Medienkunst et cetera hauptsächlich nur noch als Abglanz in der Literatur und Dokumentation erfahrbar sind. Und in den meisten Kunstbibliotheken war und ist die Vermittlung einschlägiger audiovisueller Materialien, die ja existieren, wohl allenfalls Nebensache. Das Temporäre, Ephemere konnte aber auch durchaus zum künstlerischen Konzept gehören. Und die Aura, die heute von der S/W-Fotodokumentation einer raumzeitlichen Beuys-Aktion ausgeht, ist eine ganz besondere. Insofern ist die gegebenenfalls in einer Kunstbibliothek konsultierte Literatur beziehungsweise Künstlerpublikation vielleicht Teil der intendierten Entfaltung des Werkes oder einer Ausstellung, mitunter eine von vornherein mitbedachte Möglichkeit der Erfahrbarkeit unabhängig von Ort und Zeit. In der traditionellen Lektüresituation in einer wissenschaftlichen Bibliothek geht es aber zunächst um die Rezeption und die Entwicklung von wissenschaftlichen Befunden in Form von Texten. Die beste Weise der Erfahrung des Kunstwerkes wird hier vielleicht traditionell zu wenig als mögliche Aufgabe der Bibliotheken, aber auch als Option des Publikums erkannt. Es existieren international exzellente Bilddatenbankangebote, aber auf Datenbankebene ist anders als in Google keine standardmäßige Integration mit den Bibliotheksdaten gegeben. Auch in Bezug auf bestimmte Werkformen, nämlich Graphik und Künstlerpublikationen, und nicht zuletzt den inzwischen sehr bedeutenden Bereich der Fotobücher einzelner Künstler, die für die Rezeption in der Bibliothekssituation prädestiniert sind, gibt es zu wenig spezielle und attraktive, zum Entdecken der Bestände einladende Präsentationsformen und Konsultationsbedingungen. Beziehen wir nun die am Anfang thematisierte Vermittlung von ‚Digital Art‘ ein, so wird deutlich, dass hier zusätzlicher Anlass besteht, den gewohnten Bibliotheksraum auch in altehrwürdigen Forschungsinstituten wie dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte zu transformieren. Computerkunst wie https://webb.site/info/ von Thomas Webb ist ein Beispiel für die Emanzipation sowohl vom Ausstellungsraum wie auch vom Kunstbuch, bedarf aber wohl dennoch eines Rezeptionsraums jenseits des privaten Arbeitsplatzes. Stand noch bis in die jüngste Zeit die Verfügbarmachung uniformer Silentium-Leseplätze im Vordergrund, so auch bei der Neukonzeption der Bibliothek des Institut national d’histoire de l‘art (INHA), Paris, in der Salle Labrouste, so dürfte genau dies sich in Zukunft ändern. Der Computerkunst zum Beispiel antwortet auf wissenschaftlicher Seite eine speziell qualifizierte Form der ‚digitalen Kunstgeschichte‘, verkörpert durch Personen und Institutionen. Gedruckte Abhandlungen sind zwar auch hier mögliche Reflexionsformen, aber es ist naheliegend, dass diese Art von Kunst andere, adäquate Medien verlangt. Leider gibt es, wie schon oben angedeutet, eine gewisse Tradition der Vernachlässigung von sogenannten Non-Book-Materialien. AV-Kabinen wie in den achtziger Jahren sind aus Bibliotheken längst verschwunden. In der ZI-Bibliothek sind ältere Medien wie Schallplatten, Videokassetten, Dias gar nicht mehr nutzbar, selbst für CDs stehen keine Lesegeräte mehr zur Verfügung. Nun gibt es auch noch die digitalen Kunstwerke, die im Netz veröffentlicht werden, zum Beispiel über Apps im Falle von Virtual Reality. Solche Angebote sind teilweise für die private ambulante Nutzung mit Mobile Devices konzipiert. Es mag jedoch zutreffen, dass für diese Wahrnehmung von Computerkunst ein spezieller räumlicher Rahmen nicht entbehrlich ist. Anders als einschlägige Ausstellungsinstitutionen, man denke beispielweise an die durch ihre schiere Größe überwältigenden monumentalen Screens der kürzlich auch im Kunstpalast in Düsseldorf präsentierten ‚Machine Hallucinations‘ von Refik Anadol4, imponieren die Kunstbibliotheken ihren Lesern bislang in der Regel nicht mit technischen Devices. Diese werden sich eher in den thematisch spezialisierten Institutionen finden.
Digital art, probably more so than before, will exist in multiple contexts – the public spaces of networks, cities, and natural environments. It remains to be seen if and how traditional art institutions will open up to these varied contexts in support of digital art forms. (Paul, 2023, p. 319)
Das Zentralinstitut für Kunstgeschichte reagiert auf die skizzierte Situation künftig zumindest mit einem verfeinerten Konzept der Leseraumgestaltung, treffender vielleicht könnte man von Reflexionsräumen reden. Hierzu gehört nicht nur die Ergänzung der reinen Dauerlektürezonen durch zur Entdeckung einladende, komfortabel gestaltete Kurzkonsultationsbereiche für Neuerscheinungen et cetera sowie durch Gruppenarbeitszonen, auch für die aktive Teilnahme an Online-Veranstaltungen Dritter. Zur Unterstützung der Erlangung des für den Umgang etwa mit Computerkunst erforderlichen Rüstzeugs wird es auch ein attraktives und besonderes technisches Equipment geben, das je nach Interessenlage und laufenden Aktivitäten in Forschung und Lehre angepasst werden könnte. Eine Plattform für VR-Kunst wie ‚Radiance‘5 wäre anders gar nicht umfassend zu nutzen.
Letztlich bleibt die grundsätzliche Frage, welchen Anteil die Forschungsinfrastruktur der (Kunst-)Bibliotheken, die ja auch für die Lehre sehr wichtig ist, überhaupt künftig im Kontext der Informationsversorgung haben kann. Diese Frage prägt übrigens von Beginn an auch die Programmatik der in Deutschland sogenannten Fachinformationsdienste, vormals Virtuelle Fachbibliotheken: „Die überinstitutionelle Bereitstellung aller Medien- und Informationsangebote des FID Kunst weist weit über die Grundaufgaben wissenschaftlicher Bibliotheken hinaus und bietet WissenschaftlerInnen durch standortunabhängige Zugriffsmöglichkeiten in Verbindung mit digitalen Arbeitsinstrumenten optimale Unterstützung des Forschungsprozesses im Bereich der kunstwissenschaftlichen Grundlagen- und Spitzenforschung“ (arthistoricum.net, 2023a) liest man auf der Website des kunsthistorischen FID arthistoricum.net. Im dort angesiedelten Blog publiziert Jacqueline Klusik-Eckert von der Universität Erlangen-Nürnberg zusammen mit einem Redaktionsteam aus dem deutschen ‚Arbeitskreis Digitale Kunstgeschichte‘6 seit März 2023 den aus längeren Interviews mit Spezialisten bestehenden Podcast #arthistoCast:
Im Wissenschaftspodcast #arthistoCast dreht sich alles um die Digitale Kunstgeschichte. Dabei geht es um den Einsatz digitaler Methoden in der kunsthistorischen Forschung, also um die Frage, wie technische Entwicklungen für das Fach genutzt werden können und wie sich die Forschung im Zuge der Digitalisierung verändert hat. (arthistoricum.net, 2023b)
Hier werden sukzessive die Felder der „datengetriebenen Kunstwissenschaft“ erörtert. Auch dabei wird deutlich, dass Kunstbibliotheken, die von den vom Buchhandel vertriebenen Verlagspublikationen ausgehen und vor Jahrzehnten bei der EDV-Einführung in unserer Disziplin zu den Pionieren gehörten, mittlerweile nur ein beitragendes Element im weiten kunsthistorischen Datenangebot darstellen. Keineswegs können sie aber noch je für sich den Anspruch erheben, als solche die für ein Thema relevanten wissenschaftlichen Informationen erschöpfend zu akkumulieren. Die Situation wird also zunehmend unvereinbar mit dem lange Zeit erfolgreichen Konzept, mit dem Otto Lehmann Brockhaus (1909–1999) vor einem Dreivierteljahrhundert die Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München begründet hat: an einem einzigen Ort vollständige Bestände, vollständige Erschließung, liberaler Zugriff, das alles gestützt auf möglichst viel Geld.7 Unter Netzbedingungen freilich bleiben diese drei konstituierenden Prinzipien auf einer anderen Ebene auch weiterhin sinnvoll. Die bestmögliche virtuelle kunsthistorische Bibliothek, sozusagen Lehmann-Brockhaus 2.0, besteht letztlich in der bestmöglichen Datenvernetzung und künftig sicher in einer KI-basierten intensiven, gar anfragespezifischen erschließenden Aufbereitung, von der Generationen von ‚Sacherschließern‘ nicht einmal träumen konnten, und die als Frontend keineswegs mehr die berüchtigten textlichen Eingabeformulare bedient, nicht einmal auf das ALL-Suchfeld angewiesen ist. Damit korrespondieren wird eine derzeit noch kaum vorstellbare Anreicherung der entitätenbezogenen Daten. War es seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein großer Fortschritt, dass die bibliographischen Daten im Sinne der relationalen Datenbanktechnik mit ‚Normdaten‘ verlinkt wurden, so werden künftig auch diese mit flexibleren Strukturen integriert werden müssen. Die klassischen Bibliotheks-„Titelaufnahmen“ werden irgendwann nicht mehr auf die althergebrachte Weise produziert werden und im Verhältnis zur relevanten Gesamtdatenmenge eher untergeordnet sein. Das mit vielfältiger Beteiligung des Fachs Kunstgeschichte angelaufene nationale Projekt NFDI4Culture8 trägt schon im Namen die Idee einer neuen Infrastruktur. Wie vor Jahrzehnten bei der EDV-Einführung müssen wir wieder neu ansetzen, sicher mit der Chance, die langjährigen Investitionen in unsere reichen Bestände mit ihren zahlreichen, in überfüllten Magazinen verborgenen Schätzen auf überzeugendere Weise als bisher rechtfertigen zu können.