Editorial: Brush marks, paper, and pixels: Opportunities of Art Libraries in the Digital Age
Der Kupferstich „Hieronymus im Gehäuse“ von Albrecht Dürer aus dem Jahre 1514 führt das Arbeiten mit Büchern in einem stillen Raum vor Augen: Ein stabiler Arbeitstisch mit einer Schreiberhöhung ist vorhanden, diverse Bücher liegen unterhalb des Fensters, die hintere Wand ist mit Regalen ausgestattet, des Weiteren sind diverse Sitzmöglichkeiten sowie verschiedene Objekte zu sehen: handgeschriebene Briefe an der hinteren Wand angeheftet, eine Sanduhr, ein Schädel, sogar ein Kürbis. Das Zimmerchen als Bibliothek zu bezeichnen, wäre verfehlt; dennoch sind alle Gegenstände für das Arbeiten in einer Kunstbibliothek geradezu archetypisch. Ziehen wir noch das digitale Faksimile des genannten Stichs von Dürer hinzu, dann stehen wir inmitten des Diskurses, was eine Kunstbibliothek im 21. Jahrhundert alles an „Digitaler Kunst“ aufzunehmen und in ihren Räumen zu präsentieren vermag. Kunstbibliotheken, soviel sei vorweggenommen, werden sich in der Zukunft immer stärker vom althergebrachten Bild einer Büchersammlung emanzipieren. Gerade die „Digitale Kunst“ wird dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, da Kunstbibliotheken hierzu Repositorien anbieten können, um diese langfristig zu speichern, auffindbar zu machen und nicht zuletzt um diese zu konsumieren.
Ein weiteres kommt hinzu: Im Gegensatz zu klassischen Schul- oder Universitätsbibliotheken sind Kunstbibliotheken an differenzierteren Orten angesiedelt, so an universitären Seminaren, in Kunstmuseen oder gar als Teil einer eigenständigen Forschungsinstitution für Kunstgeschichte, wie das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Was bedeutet dies für den Raum einer Kunstbibliothek und welche Herausforderungen sind an diesen gerichtet? Welches „Beziehungsgeflecht der Wissensräume“ (Eigenbrodt, 2021, pp. 111–113) müssen Kunstbibliotheken in Anbetracht dieser Vielfalt von Medien und Nutzenden bieten? Kuratoren, Studierende, Forschende und weitere Nutzendengruppen verlangen vom Bibliothekraum unterschiedlichste Settings; gleichsam werden differenzierte Arbeitsplätze notwendig sein, wenn analoge und digitale Objekte unmittelbar in einer Bibliothek verhandelt werden. Hierbei sei auch die Open Access Bewegung und das e-Book genannt; beides stösst in der Kunstgeschichte noch immer auf gewisse Vorbehalte. Der Trend hin zu elektronischen Medien wird allerdings auch in der Kunstgeschichte nicht mehr aufzuhalten sein. Somit ist es höchste Zeit sich darüber Gedanken zu machen, was e-Books mit vielen Abbildungen, gleich dem digitalen Kunstwerk, von einer physischen bibliothekarischen Lernumgebung verlangen, um diese Medien sinnvoll zu nutzen, zu erforschen und zu kuratieren. Der physische Raum muss hierzu mit den digitalen Medien interagieren und als ein gemeinsames hybrides Raumkonzept gedacht werden. Zieht man den Stich „Hieronymus im Gehäuse“ nochmals hinzu, so muss dieses Kunstwerk als analoges und digitales Objekt in einer modernen kunsthistorischen Bibliothek mit diversen Methoden und Techniken erforschbar und parallel mit Literatur und Forschungsdaten verschränkt werden. Ob damit eine Infragestellung der Existenz von Kunstbibliotheken einhergeht, sei dahingestellt.
Der vorliegende Band versucht sich diesen Fragen in drei verschiedenen Beiträgen zu stellen, wobei die Ansätze unterschiedlicher nicht sein könnten und den Reiz dieser Ausgabe von 027.7 ausmachen.
Aufgrund der Loslösung von der althergebrachten akademischen Bibliotheksinfrastruktur und von den klassischen Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Arbeitens zu Gunsten von webbasierten kommerziellen Suchen, erkennt Rüdiger Hoyer in seinem Beitrag in den Kunstbibliotheken neue Trends und Chancen. Er beschreibt neue Kunst- und Publikationsformen und stellt sich dabei die Frage, welche Möglichkeiten und Defizite Kunstbibliotheken aufweisen, nicht nur in der Präsentation der Forschung und Produktion, sondern durchaus auch in räumlichen Belangen. Abspielgeräte für CDs oder Videos fehlen, zugleich bedürfe es eines Rezeptionsraums von Computerkunst jenseits des privaten Arbeitsplatzes. „Zur Unterstützung der Erlangung des für den Umgang etwa mit Computerkunst erforderlichen Rüstzeugs wird es auch ein attraktives und besonderes technisches Equipment geben“, das auch den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden könnte. Die Bibliothek wird so neben den klassischen Arbeiten als Rezeptionsort von digitaler Kunst verstanden.
Tabea Lurk und Michael Mathys konzentrieren sich hingegen vor allem auf die Frage nach den Auswirkungen von Open Access und Open Science in der Kunstgeschichte, beziehungsweise digitaler Quellen des kulturellen Sektors aus der Perspektive einer Kunsthochschulbibliothek. Kernelemente ihrer Fragestellung sind, wie sich Kunst- und Museumsbibliotheken in Anbetracht der geschilderten Sachlage als Kreativraum, Mediensammlung und Informationszentrum positionieren und ihre Wirkung durch Kooperation und Kollaboration verbessern können. Angesichts des wachsenden Angebots an openGLAM Projekten und Portalen und der aktuellen Debatten etwa zur Dekolonisierung wächst in Forschung, Öffentlichkeit und Politik die Erwartungshaltung gegenüber Bibliotheken. Die Bibliothek wird dadurch zum überregionalen Forschungsdatenrepositorium des Kulturbetriebs, woraus gemäss den Autor*innen die Pflicht erwächst, ihre Datenbanken, Bestände und Mediensammlung öffentlich zugänglich zu machen.
Einen anderen Aspekt beleuchtet Hubertus Kohle in seinem Essay über die „Anthropothek“. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung befürchtet er eine existenzielle Bedrohung für Kunstbibliotheken. Diese sieht er vor allem beim Thema des Reproduktionsrechts, wo eine starke Einschränkung in der digitalen Verwertung besteht. Aus diesem Grund gibt es noch eine rege Kultur des Druckes, und gedruckte Bücher werden in Bibliotheken der klassischen Art aufbewahrt. Von Kunstbibliotheken wird daher eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Digitalisierung erwartet, entziehen können sich aber auch die Kunstbibliotheken nicht.
Abschliessend lassen sich die Fragen auch nach der Lektüre der drei Beiträge nicht klären – doch man kann eine gemeinsame Stossrichtung in der Entwicklung der Kunstbibliotheken in den Bereichen Medien, Digitalisierung und Nutzung von Lernräumen erkennen: Die klassische Aufbewahrung gedruckter Materialien wird zwar nach wie vor eine Rolle spielen, jedoch ist ein Rückgang im Arbeiten mit analogen Medien nicht von der Hand zu weisen. Zwei neue Felder rücken somit in den Fokus: Einerseits sollten Bibliotheken eine Palette von technischen Hilfen anbieten, um unter anderem digitale Kunstwerke für die Forschung verfügbar zu machen. Andererseits besteht die Nachfrage, das stets wachsende digitale Angebot zu bündeln und seine Auffindbarkeit zu erhöhen. Die Transformation der Kunstbibliotheken von Magazin und Lesesaal hin zur hybriden Lernumgebung sowie die Zurverfügungstellung von digital entstandener Kunst beziehungsweise ihrer weiteren Verarbeitung in der Forschung hat zwar bereits begonnen, wird sich aber weiter fortsetzen. Des Weiteren wird sich die Zusammenarbeit von Kunstbibliotheken mit den Museen in Fragen nach der digitalen Nachnutzung von Kunst und Kunstbibliotheken intensivieren. Die Lunte der Digitalisierung erscheint in den Bereichen Kunstgeschichte und Kunstbibliotheken zwar länger als in anderen Fachbereichen, dafür ist die Detonation dann umso grösser. Es ist höchste Zeit, sich darauf vorzubereiten und Hieronymus mit einem Knall aus seinem Gehäuse zu locken.