Der Beitrag berichtet von den Ergebnissen einer Prüfung von Regelungen an der Schnittstelle ‚Bibliothek/Nutzer:innen‘, die die Verfasserin zusammen mit Reinhard Altenhöner, dem ständigen Vertreter der Generaldirektion der Staatsbibliothek zu Berlin, im Rahmen gerichtlicher Mediation durchgeführt hat. Er erörtert die Ursachen für häufige Ausschlüsse von der Benutzung sowie die Problematik von Regelungen und Verfahrensweisen, deren organisatorische Erforderlichkeit nicht geklärt ist, die allerdings einen subliminalem Strafcharakter aufweisen. In diesem Kontext analysiert die Autorin auch jüngere verwaltungsgerichtliche Urteile zu Mahngebühren.
The article reports on the results of an examination of regulations at the interface 'library/users', which the author carried out together with Reinhard Altenhöner, the permanent representative of the General Directorate of the Berlin State Library, within the framework of judicial mediation. It discusses the causes of frequent exclusions from use as well as the problematic nature of regulations and procedures whose organisational necessity has not been assessed, but which have a subliminal punitive character. In this context, the author also analyses recent administrative court judgements on late fees.
Bibliotheken stehen aktuell vor aussergewöhnlichen Herausforderungen. In vielen Bibliotheken werden Benutzungsregeln (Haus-, Benutzungs- und Gebührenordnung) angewendet, die in ihrer Grundgestalt seit Jahrzehnten in Kraft sind, ohne dass sie jemals auf ihre Zweck- und Verhältnismässigkeit (zu den Kriterien vgl. Juraschko, 2022) geprüft wurden. Eine solche Prüfung lässt sich zum Teil mittels einer detaillierten Analyse ausgewählter Regelungen und ihrer praktischen Umsetzung durchführen. Zum Teil erfordert eine effektive Prüfung jedoch auch, die zu prüfenden Regeln zeitweise und bezogen auf zumindest einen Teil der Nutzer:innen (Kontrollgruppe) nicht anzuwenden. Die Notwendigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit etablierten Regelungen an der Schnittstelle ‚Bibliothek/Nutzer:innen‘ wird durch den radikalen Wandel verstärkt, den die Bibliotheksorganisation infolge der zunehmenden Digitalisierung und Öffnung von Bibliotheken (‚Open library‘) (Klupp, 2022) aktuell erfährt. Die ohnehin nie geprüften Regelungen1 passen somit nicht mehr zu den Bibliotheken und ihren Abläufen. Die geschilderte bibliotheksspezifische Situation wird durch eine allgemein gesellschaftliche ergänzt: Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen ist in einem Wandel vom Obrigkeitsstaat zum partizipativen Staat begriffen. Dieser lässt auch das Verhältnis zwischen öffentlichen Bibliotheken und Nutzer:innen nicht unberührt.
Vor diesem Hintergrund haben Reinhard Altenhöner, der ständige Vertreter der jeweiligen Generaldirektor:innen der Staatsbibliothek zu Berlin,2 und die Verfasserin dieses Beitrags (als langjährige Nutzerin der Staatsbibliothek) gemeinsam in einem beinahe zwei Jahre andauernden Denk- und Diskussionsprozess ausgewählte Benutzungsregeln geprüft. Die Prüfung erfolgte im Rahmen gerichtlicher Mediation, an der die Staatsbibliothek (eine Einrichtung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) und die Verfasserin als Parteien teilnahmen. In der Erwartung, dass die Staatsbibliothek die Prüfungsergebnisse zeitnah umsetzen würde, fertigten Altenhöner und Kutschke einen Entwurf für einen öffentlich-rechtlichen Vertrag an, der die Denk- und Prüfergebnisse dokumentiert. Obwohl der Vertragsentwurf im Juli 2020 in einer fast unterschriftsreifen Fassung vorlag, brach die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die gerichtliche Mediation Anfang August 2020 unerwartet und ohne Angabe von Gründen ab. In der Folge wurde das Verfahren vom für die Mediation zuständigen Güterichter an eine Kammer für streitige Verfahren (zurück)überwiesen.3
Da die im Vertragsentwurf festgehaltenen Prüfungsergebnisse nicht nur für die Staatsbibliothek, sondern generell für die Bibliotheksorganisation im deutschsprachigen Raum relevant sein dürften, werden sie in diesem Beitrag vorgestellt und erläutert.
Altenhöner und Kutschke haben unter anderem die Parameter für die Implementierung eines Nutzer:innenbeirats – Struktur, Arbeitsaufgaben, Einrichtung und Arbeitsaufnahme – ausgearbeitet. (Alterhöner & Kutschke, 2019a)4 Hierin folgten sie einer Anregung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die einige Aspekte des Nutzer:innenbeirats ‚vorformuliert‘ hatte. Altenhöner und Kutschke begründeten die Einrichtung des Beirats folgendermassen:
Die Staatsbibliothek und Dr. Beate Kutschke sind sich darin einig, dass eine stärkere, aktive Beteiligung ihrer Nutzer*innen an der Ausgestaltung der Benutzungsregelungen ein wichtiger Beitrag für die Weiterentwicklung der Bibliothek ist, der unter Umständen auch zeitlich erhebliche Anstrengungen einzelner Nutzer*innen beinhaltet. Die Staatsbibliothek wird daher Schritte einleiten, um bei Erfolg des Konzepts ‚Mitwirkung der Nutzer*innen an der Mitgestaltung der Staatsbibliothek und ihrer Services im Rahmen eines Nutzer*innen-Forums‘ […] die ehrenamtliche Mitarbeit im Beirat angemessen zu honorieren. (Altenhöner & Kutschke, 2020, III)
Eine Honorierung der Beiratsmitglieder wurde deshalb in Aussicht gestellt, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Nutzer:innen über die Lebensumstände verfügen, die das Grundkonzept ehrenamtlichen Engagements nach ‚Feierabend‘ stillschweigend voraussetzt: eine Regelarbeitszeit von normalerweise nicht mehr als 38 bis 40 Stunden pro Woche sowie ein sicheres monatliches Gehalt. Vielmehr muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse von Nutzer:innen (Studierende, Wissenschaftler:innen in der Qualifikationsphase) trotz hohen Arbeitseinsatzes prekär sein können.
Das Nutzerforum wird nach einer Probephase von zwei Jahren evaluiert. Er wird dauerhaft etabliert, wenn sich seine Vorschläge als für das Wohl der Staatsbibliothek und ihrer Mitarbeiter*innen, der Nutzer*innen sowie für das Gemeinwohl als geeignet erweisen. (Altenhöner & Kutschke, 2020, IV)
Des Weiteren haben Altenhöner und Kutschke Leitlinien – eine Vision – „Zur zukünftigen Gestalt des Verhältnisses zwischen Benutzer:innen und Bibliotheken der Staatsbibliothek zu Berlin“ erarbeitet. (Altenhöner & Kutschke, 2019b)5 Die Leitlinien sollten dem Vertragsentwurf nach auf der Webseite der Staatsbibliothek zu Berlin veröffentlicht werden. (Altenhöner & Kutschke, 2020, I)
Die unvoreingenommene Perspektive von Altenhöner ermöglichte eine offene, klare Beschreibung des Ist-Zustands sowie der Perspektiven für die Zukunft. Reinhard Altenhöner sei an dieser Stelle für seine Aufgeschlossenheit für neue Ideen gedankt. Altenhöner und Kutschke formulierten unter anderem:
Wir wünschen uns im Ergebnis Folgendes: Ein gleichberechtigter, von beiden Seiten aus verantwortlich geführter kontinuierlicher Dialog über zweckmäßige, konstruktiv orientierte und einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhaltende Regelungen soll an die Stelle eines von der Staatsbibliothek einseitig vorgegebenen, häufig strikt limitierenden und sanktionierenden Regelungsrahmens treten, der in der Vergangenheit entstanden ist und heute – manchmal ohne erkennbaren Bezug zu früher vielleicht real bestehenden Erfordernissen – die Benutzungssituation immer noch prägt. Das Ziel ist demnach, nicht Regelungen zu treffen, um anschließende Regelverstöße ahnden zu können, sondern Regelungen so zu treffen, dass es erst gar nicht zu Regelverstößen kommt. (Altenhöner & Kutschke, 2019b)
Die Leitlinien fassen den Kern der Prüfergebnisse in Worte. Die Prüfergebnisse werden im Folgenden vorgestellt.
Altenhöner und Kutschke sind im Rahmen der Analyse gehäuft auf Regelungen gestossen, die in den vollständigen oder fast vollständigen Ausschluss der Nutzer:innen von der Benutzung mündeten. Der Ausschluss der Nutzer:innen von der Benutzung wird mittels einer Sperrung des Benutzerkontos realisiert und hat zur Folge, dass die betroffenen Nutzer:innen weder Medien verlängern noch bestellen und abholen oder abholen lassen können. Die betroffenen Nutzer:innen haben auch keinen Zugang zu den elektronischen Ressourcen (Datenbanken, Digitalisate, E-Books) und den Lesesälen mehr.
Der Ausschluss soll beziehungsweise sollte unter anderen eintreten
bei offenen Gebühren ab der Minimalhöhe von 0,01 €;
bei der Abgabe eines Benutzerausweises durch einen Dritten in der Leihstelle (zum Beispiel nachdem Nutzer:innen ihren Ausweis in den Räumlichkeiten der Bibliothek verloren oder liegen gelassen hatten und dieser von anderen Nutzer:innen oder Personal gefunden worden war);
bei der Erteilung eines Hausverbots.
Die Prüfung hierzu von Altenhöner und Kutschke hat ergeben, dass alle diese Ausschlüsse von der Benutzung unverhältnismässig sind – und zwar jeweils aus unterschiedlichen Gründen.
§ 11 Abs. 7 der Benutzungsordnung schreibt vor, dass Benutzer:innen „von der Ausleihe und anderen Dienstleistungen“ „bis zur Tilgung aller Forderungen“, das heisst ab einer offenen Gebühr von 0,01 € ausgeschlossen sind. In der Praxis bedeutet die Regelung, dass Nutzer:innen, wenn sie eine Abgabefrist für ein einziges Buch versäumen oder ihr Benutzerkonto wegen einer Fernleihe mit offenen Gebühren belastet wird, sofort von der Benutzung ausgeschlossen werden.
Die Regelung ist so rigoros formuliert, dass sie dem Wortlaut gemäss gar nicht umgesetzt werden kann. Dementsprechend wurde die Regelung auch nie angewendet (obwohl das Justiziariat und der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sie geprüft und gebilligt haben). Stattdessen wurde eine nicht existierende ‚Fantasieregelung‘ vollzogen, der gemäss Nutzer:innen erst dann ausgeschlossen werden, wenn ihr Konto einen von der Bibliothek bestimmten, in der Gebührenordnung jedoch nicht bezeichneten und somit für die Bibliothek auch nicht verbindlichen Betrag überschreitet.
Im Vereinbarungsentwurf haben Altenhöner und Kutschke dementsprechend eine Ersatzregelung zu § 11 Abs. 7 der Benutzungsordnung formuliert, die die schriftliche Regelung an die reale Praxis anpasst.
Die Staatsbibliothek wird die Regelung [§ 11 Abs. 7 der Benutzungsordnung] so abändern, dass sie dem Wortlaut gemäß vollzogen werden kann, indem der Betrag, ab dem eine Sperrung eintritt, in der [jeweils geltenden Gebührenordnung bestimmt ist]. (Altenhöner & Kutschke, 2020, VII. 1. a))6
Der Vereinbarungsentwurf hält zu der Regelung, Nutzer:innen von der Benutzung auszuschliessen, nachdem ihr Benutzerausweises durch einen Dritten in der Leihstelle abgegeben wurde, Folgendes fest:
Die Regelung hält der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand, weil nicht erkennbar ist, welcher legitime Zweck mit der Sperrung des Nutzerausweises in dieser Situation verfolgt werden kann (für eine ausführliche Darlegung, warum diese Regelung keinen legitimen Zweck verfolgt, s. die Emails von Beate Kutschke an die Staatsbibliothek vom 13.7.2014, 20.7.2014 und 18.9.2017 und die Klagebegründung vom 14.11.2017).
Die Regelung wurde mittlerweile durch Anweisung vom 22.1.2019 durch eine neue ersetzt. Sie sieht keine Sperrung des Ausweises nach der Abgabe im Lesesaal mehr vor. (Altenhöner & Kutschke, 2020, VII. 7.)
So konzise das Resultat auch ist, der Weg bis zur Abschaffung der Regelung war lang und beschwerlich. Die Emails, Telefonate und persönlichen Gespräche von Kutschke, die im Juli 2014 und September 2017 auf die Problematik der Regelung aufmerksam machten und die die Staatsbibliothek um die Darlegung der mit der Regelung verfolgten Zwecke baten, liefen ins Leere. Kutschke erhielt Antworten, die ihr ihrem Eindruck nach ‚einen Bären aufbinden‘ wollten. Der (damalige) Leiter des Referats Lesesäle, Dr. Oliver Berggötz, bestätigte, dass die Sperrung des Benutzerkontos bis zur Abholung des Ausweises erforderlich sei – und zwar mit folgender Begründung:
[D]er wirklich sicherste Weg ist natürlich, den Ausweis erst gar nicht zu verlieren. Aber wenn er mal weg ist, weiß niemand, was in der Zwischenzeit mit ihm geschieht. (Berggötz, 2014)
Diese Mitteilung machte keinen Sinn, weil sich aus der Funktionsweise des Ausweises (eine Plastikkarte mit Barcode und Chip, auf dem der Barcode elektronisch gespeichert ist) das Spektrum des möglichen Missbrauchs präzise ableiten lässt und die Missbrauchsoptionen vor der Abgabe des Ausweises in der Leihstelle nicht durch eine zeitweise Sperrung des Benutzerkontos nach der Abgabe in der Leihstelle gebannt werden können. (Der Ausweis wurde nach der Abholung des Ausweises durch die regulären Besitzer:innen in der Leihstelle wieder entsperrt.)
Die im Oktober 2017 beim Verwaltungsgericht Berlin erhobene Klage wegen dieser Regelung führte zunächst auch noch nicht zur Abschaffung der Regelung. Der über eine externe Kanzlei mandantierte Prozessvertreter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Dr. Ulrich Becker, verteidigte in seiner Klageerwiderung die Verhältnismässigkeit der Regelung – wieder mit Argumenten, die aus der Perspektive von Kutschke nicht nachvollziehbar waren. Erst in der ersten Sitzung des Güteverfahrens vor dem Güterichter (gerichtliche Mediation) teilte Altenhöner mit, dass er die Regelung für nutzlos halte und kündigte ihre Abschaffung an. Becker räumte bei dieser Gelegenheit ein, dass er den – nicht vorhandenen – Zweck der Regelung deshalb zuvor verteidigt habe, weil dies zu seinen Aufgaben als Prozessvertreter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gehöre.
Auch der Einzelrichter des Verwaltungsgerichts Berlin, der nach dem Abbruch der gerichtlichen Mediation vonseiten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit dem Verfahren betraut war, rechtfertigte übrigens die (nicht vorhandene) Verhältnismässigkeit der Nutzer:innenkontosperrung. (Der Richter hatte sich, so scheint es, nicht den Sachstand in Gestalt der Verhandlungsergebnisse aus der gerichtlichen Mediation pflichtgemäß angeeignet und vorrangig nur die Schriftsätze von Becker, dem Prozessvertreter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zur Kenntnis genommen.) Seine (nicht nachvollziehbare) Begründung war die Grundlage dafür, Kutschke die Kosten für die Klage aufzuerlegen, obwohl die Erledigung der Klage durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz selbst herbeigeführt worden war und ihr somit die Kosten gemäß § 161 Abs. 2 VwGO aufzuerlegen waren.
Obwohl Hausverbote das Betreten des Grundstücks einer Bibliothek untersagen und die Nutzung für die betroffenen Nutzer:innen ansonsten nicht einschränken sollten,7 setzte die Staatsbibliothek bisher Hausverbote als ‚Hausverbot + vollständiger Ausschluss aus der Benutzung‘ um. Dieser Praxis wurde auch vom Justiziariat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nicht gewehrt.
Um zukünftig Nutzer:innen vor dem zusätzlichen Schaden eines Ausschlusses von der Benutzung infolge eines Hausverbots zu schützen, haben Altenhöner und Kutschke folgenden Passus in den Massnahmenkatalog im Vereinbarungsentwurf aufgenommen, der gemäss dieses Entwurfs zeitnah umgesetzt werden sollte:
Aus der Zweckbindung beider Maßnahmen [Hausverbot auf der einen und vollständiger Ausschluss aus der Benutzung auf der anderen Seite] ergibt sich, dass ein Nutzer bei Erteilung eines Hausverbots nicht mehr wie bisher automatisch auch von der Benutzung als ganzer (Nutzung der elektronischen Ressourcen; Bestellung und Abholung von Büchern durch einen Dritten) ausgeschlossen wird; solche weiteren Einschränkungen der Nutzung müssen explizit benannt werden und begründet sein. In der Novellierung der Benutzungsordnung ist dementsprechend eine Sachabgrenzung zwischen einem Hausverbot (gemäß § 1 der Hausordnung) und einem Ausschluss von der Benutzung (gemäß § 21 der Benutzungsordnung) vorzunehmen.
Aus der Zweckbindung beider Maßnahmen ergibt sich weiterhin, dass Hausverbote (a) und Ausschlüsse von der Benutzung (b) nicht als (nachträgliche) Sanktionen ausgesprochen werden. Die Verhängung eines Hausverbots als abstraktem Druckmittel oder zum Zwecke der Abschreckung stellt in jedem Fall keinen legitimen Zweck dar. (Altenhöner & Kutschke, 2020, VII. 3.)
Einige Regelungsmängel liessen sich als Resultat der Überprüfung der Regelungen von Altenhöner und Kutschke vergleichsweise zügig beheben. So wurden folgende Regelungen und Verfahrensweisen aufgrund mangelnder Zweckmässigkeit abgeschafft:
a) Sogenannte ‚Laufzettel‘, die an der Eingangskontrolle für eigene und entliehene Bücher, die die Nutzer:innen in die Lesesäle mitnehmen wollten, ausgegeben wurden. Die Laufzettel verzeichneten die Anzahl und die Herkunft der Bücher (zum Beispiel Staatsbibliothek versus Fremdbibliothek). Ein legitimer Zweck, Buchdiebstahl aus dem Lesesaal zu verhindern, war spätestens durch die eingeführte RFID-Sicherung obsolet geworden.
b) Das vom Personal frei erfundene Verbot, leere Wasserflaschen in Sonderlesesäle mitzunehmen und deren Umsetzung, Nutzer:innen dazu zu verpflichten, versehentlich mitgebrachte Wasserflaschen in den Schliessfächern vor der Haupteingangskontrolle, das heisst in einem in der Regel weit entfernten Gebäudeteil der Staatsbibliothek, einzuschliessen.
c) Das vom Personal frei erfundene Verbot, Handcrèmes in die Lesesäle mitzunehmen.
Andere Regelungen, wie die Abschaffung der Verfahrensweise, Nutzer:innen nach Abgabe ihres Benutzerausweises von der Benutzung auszuschliessen, erforderten einen langen Atem und machen deutlich, dass die Schaffung ‚guter‘, das heisst zweck- und verhältnismäßiger Regelungen eine anspruchsvolle Aufgabe darstellt.
Die Regelung, dass offene Gebühren in der Höhe von 0,01 € den Ausschluss von der Benutzung zur Folge haben (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 2012, § 11 Abs. 7)8, führt vor Augen, dass Regelungen so konzipiert werden sollten, dass sie nach Möglichkeit dem Wortlaut (oder zumindest dem Telos der Regelung) gemäss umsetzbar sind.
Die ‚0,01 €‘-Regelung ist ein gutes Beispiel für einen Typus von „unglaubwürdiger“ Regelung, wie sie Juraschkos Beitrag in diesem Heft definiert:
Die erste und wichtigste Voraussetzung, dass ein Regelwerk von den Betroffenen akzeptiert und eingehalten wird, ist seine Glaubwürdigkeit. Diese beginnt damit, dass die Regelungen keine Widersprüche in sich enthalten. Widersprüche verkehren den Zweck eines Regelwerks, Ordnung zu schaffen, ins Gegenteil. (Juraschko, 2022)
Mit der Novellierung der Benutzungsordnung vom 07.11.2012 wurde eine weitere Regelung eingeführt, die so rigoros ist, dass sie nicht umsetzbar ist: die Verpflichtung der Nutzer:innen, Bücher auf Anstreichungen zu kontrollieren und diese anzuzeigen (§ 9 der Benutzungsordnung). Altenhöner und Kutschke haben hierzu festgestellt:
Der mit der Regelung verfolgte legitime Zweck[9] ist, dass Bücher nach Möglichkeit im Originalzustand verbleiben sollen. Die Regelung ist zur Erreichung des legitimen Zwecks jedoch nicht geeignet,[10] weil sie aus praktischen Gründen nur in Form eines flüchtigen Durchblätterns eines Buchs anwendbar ist und diese Methode somit keine zuverlässige Kontrolle darstellt, auf deren Grundlage, Nutzer*innen für Schäden haftbar gemacht werden könnten. (Die Methode, jede einzelne Seite des Buchs von den Nutzer*innen und/oder den Mitarbeiter*innen der Staatsbibliothek umblättern zu lassen, ist zwar zur zuverlässigen Auffindung von Anstreichungen geeignet, sie würde jedoch zu nichthandhabbaren und unverhältnismäßigen Zeitaufwänden führen. Kriterium Nr. 4 ‚Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn‘[11] wäre somit nicht erfüllt. Darüber hinaus ist eine rekursive Schadenszuweisung auch aus Datenschutzgründen nicht möglich.)
Altenhöner schlug daher folgende Alternative zum nicht-umsetzbaren Drohszenario vor:
Die aktuelle verpflichtende Regelung [§ 9 der Benutzungsordnung] wird spätestens bis vier Wochen nach Abschluss der Vereinbarung [durch folgenden Appell] ersetzt:
„In Ihrem eigenen Interesse bitten wir Sie, vor Ausleihe und Nutzung der bestellten Medien, die Mitarbeitenden der Bibliothek auf unmittelbar erkennbare Schäden an den Medien hinzuweisen. Bitte informieren Sie die Mitarbeitenden, falls Ihnen während der Nutzung Schäden auffallen, spätestens bei der Rückgabe der Medien. Mit ihren Hinweisen können wir eine Reparatur oder Ersatzbeschaffung des Mediums einleiten. Wurden die Schäden von Ihnen verursacht, berechnen wir Ihnen die Kosten für die Reparatur oder eines Ersatzexemplars. Bitte behandeln Sie daher die Medien im eigenen Interesse und auch aller anderen Bibliotheksbenutzenden sehr sorgfältig.“
Ein solcher Appell mag ein zahnloser Tiger sein; er ist jedoch ehrlich und für eine auf Vernunft bauende Gesellschaft angemessen.12
Hinsichtlich des Grundproblems, dass Regelungen umsetzbar sein müssen, haben Altenhöner und Kutschke Folgendes festgehalten:
Regelungen werden zukünftig von der SBB so getroffen, dass sie ihrem Wortlaut gemäß vollzogen werden können, ohne das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu verletzen. Eine von der Regelung abweichende Verwaltungspraxis verstößt gegen das Willkürverbot, das sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ableitet.13
Die Umsetzbarkeit von Regelungen setzt voraus, dass sie, wie Juraschko ausgeführt hat, möglichst „passgenau“ (2022, Abschnitt 3) sind. Passgenauigkeit heisst, sie sollten so allgemein formuliert sein, dass sie das gesamte Anwendungsspektrum abdecken, zugleich jedoch so genau formuliert sein, dass sie nicht Willkür Tür und Tor öffnen (oder, wie es bei den Regelungen zu den Buchanstreichungen und offenen Gebühren der Fall ist, überhaupt nicht umgesetzt werden können). Die Justiziariate und Gremien, die die Regelungen prüfen und ‚absegnen‘, sind hier gefordert, zu antizipieren, wie die konkrete Umsetzung im Einzelnen geschehen soll.
Ein plastisches Beispiel für eine Regelung, die so allgemein ist, dass sie eigentlich gar nichts regelt, ist die ‚Taschenregelung‘ in § 3 Abs. 1 der Hausordnung. Sie verfolgt den legitimen Zweck, Mediendiebstähle zu verhindern. In der Hausordnung heisst es:
Die kontrollierten Bereiche dürfen nicht mit Mänteln und ähnlichen Bekleidungsstücken, Schirmen, Taschen, Rucksäcken und vergleichbaren Behältnissen sowie sperrigen Gegenständen betreten werden. Die Entscheidung darüber, ob ein Behältnis oder ein Gegenstand mitgenommen werden darf, liegt im Ermessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsbibliothek. (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 2014)
Dem Wortlaut gemäss besagt die Regelung, dass die Nutzer:innen idealerweise unbekleidet die Lesesäle betreten, weil nicht nur Brillenetuis, Portemonnaies, Schnellhefter und Leitz-Ordner, sondern auch BHs und Slips als Behältnisse dienen und hinsichtlich ihres Behältnischarakters mit Bekleidungsstücken, Schirmen, Taschen und Rucksäcken vergleichbar sind. Darüber hinaus besagt die Regelung, dass die Mitarbeiter:innen an der Eingangskontrolle in jedem Einzelfall Ermessen ausüben sollen, ohne dass die Bibliothek jedoch zweckmässige Kriterien für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Behältnisses zur Mitnahme in den Lesesaal aufgestellt hat. Zur Lösung dieses Problems haben Altenhöner und Kutschke folgenden Vorschlag zu einer Novellierung der Regelung gemacht:
Entscheidend für die Geeignetheit eines Behältnisses für den Bücherdiebstahl sind dessen Masse und Volumen. Behältnisse, die definierte Masse und Volumina nicht überschreiten, sind daher zulässig, solange es keine anderweitigen Verbotsgründe gibt (Punkt VII.6).
§ 3 Abs. 1 der Hausordnung muss somit zweckmäßigerweise heißen:
Die kontrollierten Bereiche dürfen nicht mit zum Transport von Gegenständen geeigneten Behältnissen betreten werden, die die Maße eines DIN A4-Leitz-Ordners überschreiten. Die Regelung dient dem Zweck, Buchdiebstahl zu verhindern. Die Entscheidung darüber, ob ein Behältnis mitgenommen werden darf, liegt bei bezüglich der Maße grenzwertigen Fällen im Ermessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsbibliothek.
§ 3 Abs. 1 der Hausordnung wird mit Abschluss der Vereinbarung bis zur Verabschiedung der novellierten Benutzungsordnung in der vorliegenden präzisierten Interimsfassung angewendet. (Altenhöner & Kutschke, 2020, VII. 5)
Die ‚Taschenregelung‘ ist übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, dass ungeeignete Regelungen von anderen Bibliotheken ungeprüft übernommen werden. (Juraschko, 2022, Abschnitt 9) Die Münchner Staatsbibliothek hat in ihrer Hausordnung einen Passus unter 7.3., der unverkennbare Ähnlichkeiten mit § 3 Abs. 1 der Hausordnung der Staatsbibliothek zu Berlin aufweist. Auf welche Initiative diese Verwandtschaft der Regelungen zurückgeht, ist bisher ungeklärt:
Die Lesesäle dürfen nicht mit Mänteln und/oder vergleichbaren Überbekleidungsstücken, Schirmen, undurchsichtigen Taschen, Rucksäcken, vergleichbaren Behältnissen sowie sonstigen sperrigen Gegenständen (z.B. Skateboard, Koffer, Kinderwagen) betreten werden. Die Zutrittsentscheidung liegt im billigen Ermessen des zuständigen Bibliothekspersonals. (Bayerische Staatsbibliothek, 2007, 7.3)
Die ausweichenden Antworten der Staatsbibliothek 2014 und 2017 bezüglich des Sinns und Zwecks des Ausschlusses aus der Benutzung im Falle der Abgabe eines Benutzerausweises durch andere Nutzer:innen in der Leihstelle können als Anhaltspunkte dafür bewertet werden, dass zwei der in III. genannten Maßnahmen – Ausschluss aus der Benutzung infolge eines abgegebenen Benutzerausweises sowie als Folge eines Hausverbots – nicht deshalb angewendet wurden, weil dies zur Aufrechterhaltung der Benutzungsabläufe erforderlich war, sondern um die Nutzer:innen für ihr Verhalten zu bestrafen. Wie unterscheidet sich eine organisatorisch bedingte Regelung oder Verfahrensweise – Verwaltungsakt und Verwaltungsrealakt – von einer Strafe?
Es gibt verschiedene Theorien zum Sinn und Zweck von Strafe, die sich zum Teil gegenseitig widersprechen (Roxin, 2006, S. 84-85, Rn. 35) und aus heutiger Perspektive auch nicht vollends überzeugen (Meier, 2015, S. 19-31).
Straftheoretiker:innen unterscheiden insbesondere zwischen retributiven und präventiven Straftheorien. Erstere zielen auf Vergeltung ab. Letztere verfolgen den gesellschaftlichen Zweck, weitere Straftaten in der Zukunft zu verhindern. Die verschiedenen Straftheorien werden trotz ihrer Widersprüchlichkeit in der sogenannten Vereinigungstheorie zusammengefasst (Bögelein, 2016, S. 28; sehr detailliert Mushoff, 2008, S. 163 f.), die unter anderen auch das Bundesverfassungsgericht denjenigen Entscheidungen zugrunde legt, in denen der Sinn und Zweck von Strafe entscheidungserheblich ist.14
Auch wenn der Sinn und Zweck von Strafe nicht eindeutig geklärt ist, so lässt sich jedoch konstatieren, dass die Aufgaben einer Bibliothek nicht die Bestrafung ihrer Nutzer:innen ist, sondern – als Teil der Leistungsverwaltung – eine Leistung bereitzustellen: nämlich den Zugang zu Medien und Informationen.15 Zur Verfolgung dieses Zwecks kann sie auch in die Rechte von einzelnen Nutzer:innen eingreifen und auch Gebühren erheben, nicht jedoch um sie zu bestrafen, sondern um die Leistung für alle Nutzer:innen so gut wie möglich erbringen zu können.
Die Höhe der Gebühr sollte sich dabei in erster Linie am Kostendeckungsprinzips orientieren, das allgemein für die Höhe einer staatlichen Gebühr massgeblich ist. Darüber hinaus kann die Gebührenhöhe zusätzlich nach oben oder unten modifiziert werden, und zwar aufgrund folgender Erwägungen: Der von der Behörde vermutete wirtschaftliche Nutzen, den die staatliche Leistung, für die die Gebühr erhoben wird, für die Begünstigten der Leistung hat, kann eine Erhöhung der Gebühr rechtfertigen; die eingeschränkte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Begünstigten erfordert demgegenüber die Ermässigung der Gebühr. Ausserdem kann die Gebühr zusätzlich durch einen Lenkungszweck (nach oben oder nach unten) modifiziert werden. (Wendt, 1975, S. 4; Bundesverfassungsgericht, 1979, Leitsatz; Bundesverfassungsgericht, 2003, Rn. 56)
Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Parameter, die die Höhe von staatlichen Gebühren, wie zum Beispiel Mahngebühren in Bibliotheken, beeinflussen, wirft die aktuelle Ausgestaltung von Mahngebühren für das Versäumnis, ein entliehenes Medium nicht rechtzeitig zu verlängern, Fragen auf. Drei unterschiedliche – zulässige und unzulässige – Zwecke für die Gebühren sind theoretisch möglich:
Kompensation der zusätzlichen Kosten, die dadurch entstehen, dass eine Mahnung von der Bibliothek versendet werden muss;
Handlungslenkung, das heisst die Androhung der Mahngebühr soll die Nutzer:innen motivieren, entliehene Medien zeitnah zu verlängern;
Bestrafung für das Versäumnis, Medien fristgemäss zu verlängern.
In Abhängigkeit der verfolgten Zwecke ist die Höhe der Mahngebühren unterschiedlich zu berechnen.
Zu 1. Bei der Versendung einer vom elektronischen Ausleihsystem automatisch generierten und versandten Mahnungsemail dürften der Bibliothek Kosten in Höhe von etwa 0,28 € entstehen, die gemäß dem Kostendeckungsprinzip die Höhe der Mahngebühr bestimmen.16
Zu 2. Geht die Bibliothek davon aus, dass die Drohung von Mehrausgaben in Höhe von 0,28 € im Falle eines Fristversäumnisses für die Nutzer:innen keinen ausreichenden Anreiz darstellt, um Fristverlängerungen fristgemäss vorzunehmen, und wählt sie stattdessen eine Gebühr in Höhe von 2,50 oder 3 €, so wäre diese Gebühr in jedem Fall unabhängig von der Anzahl der nicht verlängerten Medien zu erheben. Denn es gibt keinen Grund dafür anzunehmen, dass der von der Bibliothek erzeugte ‚Anreiz‘ zur fristgemässen Medienverlängerung bei fünfzig entliehenen Medien höher sein muss als bei einem Medium. Das geforderte organisatorische Verhalten der Nutzer:innen ist im Fall von einem oder von fünfzig entliehenen Medien jeweils dasselbe. Die Nutzer:innen müssen den Verlängerungstermin entweder notieren oder im Kopf behalten; sie müssen sich in ihr Konto einloggen und auf den Button ‚Verlängerung aller Medien‘ klicken.
Zu 3. Wird, wie aktuell üblich, nicht nur pro Fristversäumnis, sondern auch pro entliehenem Medium eine Mahngebühr erhoben, so kommen 1. und 2. als Erklärungen für die Ausgestaltung der Mahngebühren nicht in Betracht. Vorstellbar ist demgegenüber, dass die Mahngebühren als Strafe konzipiert sind. Die Bibliothek verfährt dann nach der Logik, dass das Versäumnis, mehrere (zum Beispiel fünfzig) Medien zu verlängern, ein grösseres ‚Fehlverhalten‘ darstelle, als das Versäumnis, ein Buch zu verlängern, und daher auch härter bestraft werden müsse – obwohl, wie in 2. gezeigt, das Fehlverhalten bei Fristversäumnissen unabhängig von der Anzahl der entliehenen Medien jeweils dasselbe ist: die Nutzer:innen haben vergessen, in ihrem Konto auf den Button ‚Alle verlängern‘ zu klicken.
Hinter dieser Auffassung, dass das Fehlverhalten bei fünfzig nicht verlängerten Medien grösser als bei einem Medium ist, könnte zum einen die Vorstellung stehen, dass die Entleihenden von fünfzig Medien mehr Nutzen oder Vergnügen haben als die Entleihenden von einem Medium und deshalb auch härter bestraft werden müssten – ähnlich wie die Schwere eines Diebstahls und das Strafmaß unter anderem am Wert der gestohlenen Sache bemessen wird.17 Zum anderen dürfte auch die Vorstellung bestehen, dass Nutzer:innen, die viel ausleihen, mehr Sorge für eine pünktliche Verlängerung tragen müssten, als diejenigen, die wenig ausleihen, und die Abschreckung mittels Mahngebühren (General- und Spezialprävention in der Terminologie der Strafzwecktheorien) somit mit der Anzahl der ausgeliehenen Medien erhöht werden müsse.
Bei solchen Überlegungen lässt sich eine zentrale Frage jedoch nicht beantworten: Wer wird eigentlich geschädigt, wenn die fristgemässe Verlängerung versäumt wurde, das heisst die Bücher nicht vorbestellt waren und die jeweiligen Entleihenden sie ohnehin behalten wollten? Ist eine Bestrafung mittels Mahngebühren nicht vergleichbar einem Mordprozess ohne Leiche? Warum sollen Entleihende von fünfzig Büchern mehr Sorgfalt für die fristgemässe Verlängerung aufbringen als Entleihende für ein Buch, wenn es doch nur um einen ‚Klick‘ im Benutzerkonto geht?
Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Fragen und Ungereimtheiten, die gerichtlichen Entscheidungen zu einem Fall, in dem eine Nutzerin Mahngebühren in Höhe von 1’000 € dafür zahlen muss, die Verlängerung von fünfzig entliehenen Büchern über mehrere Wochen (die Quelle ist bezüglich des genauen Zeitraums unklar) versäumt zu haben, verstärken sich die Zweifel an der Zweck- und Verhältnismäßigkeit der aktuellen Mahngebührenkalkulation. (Weitere 1’250 € verlangt die Bibliothek an Verwaltungsgebühren für eine „kostenpflichtige Ersatzbeschaffung“, wenn die Leihfrist „um mehr als 40 Kalendertage“ überschritten wird. Die Gesamtsumme der zu zahlenden Gebühren beträgt somit für das mehrwöchige Leihfristversäumnis 2’250 € (Hochschule Niederrhein, 2010, § 3 (3)).)
Beide Gerichte, die die Zahlungsaufforderung der Hochschulbibliothek der Hochschule Niederrhein prüften – das Verwaltungsgericht Düsseldorf (2018) und das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (2019) – hielten die Höhe der Mahngebühren für verhältnismässig, obwohl sich aus 1. und 2. ergibt, dass keine höhere Gebührensumme als 1,12 € (für vermutlich fünf Mahnungen am 1., 11., 21., 31. und 41. Tag der Fristüberschreitung18 beziehungsweise über 37 € (als Summe von Säumnisgebühren à 2, 5, 10 und 20 €19) erforderlich gewesen wäre, um das Kostendeckungs- beziehungsweise Lenkungsziel zu erreichen.
Zu welchem Ergebnis sind demgegenüber beide Gerichte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung gelangt? Lapidar formuliert: zu keinem. Das VG Düsseldorf hat die Klage der betroffenen Nutzerin mit der Leerformelbegründung20 zurückgewiesen, dass „nichts dafür“ spräche, dass die in § 3 Abs. 1 der Gebührenordnung formulierte Regelung „in einem groben Missverhältnis zu dem Lenkungszweck steht bzw. aus sonstigen Gründen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt“ (Verwaltungsgericht Düsseldorf, 2018, Rn. 43). Das OVG Nordrhein-Westfalen hat das Urteil bestätigt – wieder mit einer Leerformel, diesmal derjenigen, dass keine „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO“ bestehen würden.21 (Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, 2019, Rn. 6)
Wie dem auch sei: Um dafür zu sensibilisieren, dass Regeln und Verfahrensweisen in Bibliotheken sehr unterschiedliche Zwecke verfolgen können und nicht alle Zwecke auch legitime Zwecke (im Sinne einer Verhältnismässigkeitsprüfung) sind,22 haben Altenhöner und Kutschke im Vereinbarungsentwurf Folgendes festgehalten:
Die Staatsbibliothek erklärt, dass sie zukünftig in die Rechte der Nutzer*innen eingreifende Maßnahmen grundsätzlich nur dann ergreifen wird, wenn diese zur Erreichung klar umrissener legitimer Zwecke geeignet und erforderlich sind. In die Rechte der Nutzer*innen eingreifende Maßnahmen werden grundsätzlich nicht als (rückwärtsgerichtete) Sanktionen und auch nicht als (vorwärtsgerichtete) Sanktionsandrohungen eingesetzt […].
Speziell für Hausverbote und Ausschlüsse aus der Benutzung schlagen Altenhöner und Kutschke folgende Leitlinien vor:
Die Staatsbibliothek wird mit Abschluss dieser Vereinbarung Hausverbote (a) und Ausschlüsse von der Benutzung (b) ausschließlich zweckbezogen aussprechen, d.h. dann, wenn die gegenwärtige oder zukünftige Aufrechterhaltung eines störungsfreien Betriebsablaufs oder die gegenwärtige oder zukünftige Verhinderung der Schädigung des Eigentums der Staatsbibliothek nur durch eine der beiden Maßnahmen oder beide Maßnahmen zusammen erreicht werden kann. Die Erteilung eines Hausverbots oder eines Ausschlusses von der Benutzung für die Zukunft setzt voraus, dass Anhaltspunkte für das Bestehen einer Wiederholungsgefahr oder einer weiter bestehenden Gefahr vorhanden sind. Der jeweils verfolgte legitime Zweck (im oben genannten Sinn) ist in der schriftlichen Anordnung der Maßnahme ausdrücklich zu benennen.
Hausverbote und Ausschlüsse von der Benutzung werden aufgehoben, sobald die im erlassenen Bescheid benannten legitimen Zielsetzungen nicht mehr bestehen (z.B. weil von einer zukünftigen Störung oder Schädigung nicht mehr ausgegangen werden muss).
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Novellierung der Regelungen zum Hausverbot in der Hausordnung. § 1 Satz 5 lautet in der aktuellen Fassung vom 28.03.2014:
Verstöße gegen die Hausordnung können ein Hausverbot zur Folge haben.
Eine geeignetere Regelung wäre demgegenüber:
Die Störung der Benutzungsabläufe, anderer Nutzer*innen und/oder die Schädigung des Eigentums der Staatsbibliothek vonseiten eines Nutzers in den Häusern der Staatsbibliothek haben ein Hausverbot zur Folge, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass vom betreffenden Nutzer eine weitere Störung oder Schädigung in der Zukunft (Wiederholungsgefahr) ausgeht. Darüber hinaus kann die Staatsbibliothek zur Beendigung einer akuten Konfliktsituation einen Nutzer temporär des Hauses verweisen. (Altenhöner & Kutschke, 2020, VII. 3)
Eine solche Regelung ist weitaus komplizierter; sie vermittelt jedoch sowohl den Nutzer:innen als auch dem Personal einer Bibliothek, das die Regel anwenden und umsetzen soll, welches die Voraussetzungen für die Anordnung eines rechtmässigen Hausverbots sind.
Handelt es sich bei den vorgestellten Regelungen und den in diesem Zusammenhang bestehenden Problemen der Umsetzbarkeit und ihrem eventuell verdeckten Strafcharakter letztlich nicht um Marginalien? Sind gesperrte Benutzerausweise und Taschenregelungen nicht Lappalien? Haben wir keine wichtigeren Probleme? Diese Fragen lassen sich sowohl mit Ja als auch mit Nein beantworten.
Ja, verglichen mit den globalen Problemen – Klimawandel, weltweite Menschenrechtsverletzungen, Krieg (auch wieder in Europa), strukturell bedingte Armut, Hunger und Gewalt, Tierleid – sind Bibliotheksordnungen und ihre Unzulänglichkeiten zweifellos Lappalien.
Nein, vollständige Ausschlüsse und Hausverbote sind für die betroffenen Nutzer:innen keine Marginalien, sondern massive Eingriffe, wenn die Nutzer:innen im Rahmen ihrer Berufsausübung oder Ausbildung auf den Zugang zu Bibliotheken angewiesen sind. Nutzer:innen, die bei jedem Passieren der Eingangskontrolle zum Lesesaal bangen, welche Objekte diesmal zugelassen oder verboten sind und sich nie sicher sein können, ob sie die benötigten Arbeitsmaterialien in der aus ihrer Sicht geeigneten Form mitnehmen können, weil sämtliche Ordnung schaffende und schützende Behältnisse offiziell verboten sind, sind ebenfalls keine Marginalie. Denn solche ‚Zustände‘ sind dazu geeignet, die bereits bestehende Arbeitsbelastung und den Stress von Nutzer:innen unnötig zu erhöhen, den sie wiederum an das Bibliothekspersonal weitergeben. Dieses ist jedoch, wie der Beitrag von Klupp erörtert, bereits davon in Anspruch genommen, die einschneidenden Veränderungen in der Bibliotheksorganisation zu bewältigen. (Klupp, 2022, Abschnitt 4)
Die Frage, ob es sich bei diesen Regelungen und ihren Mängeln nicht um Lappalien handeln würde, lässt sich auch in Hinblick auf das Gerichtskostengesetz in Deutschland (GKG) beantworten. Der sogenannte Auffangwert, das heisst der gesetzlich festgelegte pauschale Streitwert für Anträge (Klagen), mit denen klagende Bürger:innen (wie zum Beispiel Bibliotheksnutzer:innen) keine wirtschaftlichen Vorteile für sich begehren, sondern rein ideelle, Gemeinwohl orientierte Ziele – wie zum Beispiel zweck- und verhältnismäßige Benutzungsregeln – verfolgen, beträgt gemäß § 52 Abs. 2 GKG 5’000 €. Auch wenn ein materieller, also konkreter, Streitwert (zum Beispiel in der Höhe von nur 15 € für Mahngebühren) angegeben werden kann und § 52 Abs. 2 GKG somit nicht mehr anwendbar ist, kann es sein, dass dem Verwaltungsgericht der materielle Streitwert zu gering erscheint und es somit (unter Missachtung von § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG, wonach die Höhe der bezifferten Geldleistung massgebend ist) zusätzlich einen Auffangwert ‚draufschlägt‘. Bei drei Klagen gegen drei Bagatell-Regelungen, wie sie den Ausgangspunkt für die Analyse der Regelungen an der Staatsbibliothek von Altenhöner und Kutschke bildeten, liegt der Gesamtstreitwert dann bei über 15’000 €. Die Verfahrensgebühren sind dementsprechend hoch, vor allem dann, wenn die Behörde, wie im vorliegenden Fall die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, eine externe Kanzlei mandantiert, statt ihre hauseigenen Volljuristen mit der Prozessführung zumindest in der ersten Instanz zu betrauen, wohingegen die klagende Nutzerin ohne Prozessvertretung für ihre Sache streitet. Orientiert man sich also an dem Wert, den das Gerichtskostengesetz dem ideellen Begehren von Bürger:innen beimisst, so sind Regelungsfragen in Bibliotheken keine Bagatellen.
Last but not least verrät die Art und Weise, wie Regeln gemacht sind und wie eine Bibliothek damit umgeht, wenn Nutzer:innen Änderungsvorschläge für Regeln machen, nicht nur viel über das Verhältnis der Bibliothek zu ihren Nutzer:innen, sondern kann auch repräsentativ für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen sein. In einem auf einem ausgeprägten Über-/Unterordnungsverhältnis gründenden Obrigkeitsstaat brauchen Regeln nicht zweck- und verhältnismässig zu sein, weil Herrschaft auf der Erwartung gründet, dass Bürger:innen Regeln blinden Gehorsam schulden.
In Verfassungs- und ‚Vernunftstaaten‘, wie sie die Schweiz spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert und Deutschland und Österreich seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts sind, wollen Bürger:innen von guten Regelungen überzeugt werden. (vgl. Kischel, 2003, S. 73) Auch ist das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen (idealerweise) ein kooperatives, auf Augenhöhe. Bürger:innen finanzieren die staatlichen Institutionen, Behörden und deren Mitarbeiter:innen mit ihren Steuern, damit diese für sie den ‚Staat‘, seine Institutionen und Behörden, organisieren. Bürger:innen sind nicht Kanonenfutter und Arbeitsvieh für das Staatssubjekt, sondern – umgekehrt – die staatlichen Institutionen sind Dienstleister für die Bürger:innen und das Gemeinwesen.
Für das Verhältnis zwischen Bibliotheken und Nutzer:innen sollte (idealerweise) Entsprechendes gelten. Die Leitlinien, die Altenhöner und Kutschke formuliert haben, gingen somit von folgender Präambel aus, mit der hier geschlossen wird:
Das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Staat ist in einem Wandlungsprozess begriffen. Vielfältige Formen von politischer Partizipation emanzipierter Bürger*innen ersetzen zunehmend bisherige Praktiken, die sich an dem Paradigma des „Nur-alle-vier-Jahre–wählen-gehenden-Bürgers“ orientieren. Von diesem tiefgreifenden soziopolitischen Wandel sind selbstverständlich auch Bibliotheken betroffen und können sich in diesen Prozess aktiv einbringen. Für die Staatsbibliothek ist es daher ein wichtiges Ziel, in den nächsten Jahren kooperative, partizipative Zusammenarbeitsformen zwischen den Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen der Staatsbibliothek zu entwickeln und zu leben. (Altenhöner & Kutschke, 2019b)
Mit dem Abbruch der Mediation im Juli 2020 ist dieses Ziel zumindest an der Staatsbibliothek vorerst wieder in weite Ferne gerückt. Vielleicht werden jedoch andere Bibliotheken den abgerissenen (goldenen) Faden der Partizipation und Kooperation aufnehmen und weiterspinnen…