Bibliotheken haben kontinuierlich mit Menschen zu tun, die mit unterschiedlichen – sichtbaren und nicht sichtbaren – Beeinträchtigungen leben, sowohl als Nutzer*innen als auch als Mitarbeiter*innen. Für die bibliothekarische Ausbildung an Hochschulen heisst dies unter anderem, dass sie einerseits die Studierenden auf diese berufliche Situation vorbereiten muss, andererseits aber auch ständig mit Studierenden zu tun hat, die mit Beeinträchtigungen leben. Dieser Beitrag fokussiert darauf, was dies für das bibliothekarische Studium bedeutet. Während der Themenbereich Inklusion und Bibliotheken schon oft in der Literatur oder auch in Abschlussarbeiten bearbeitet wurde, gilt dies für den Bereich der bibliothekarischen Ausbildung nicht. Es ist deshalb notwendig, auf Wissen über Inklusion in anderen Ausbildungsgängen zurückzugreifen.
Libraries are constantly dealing with people who live with various - visible and invisible - impairments, both as users and as employees. For librarian training at universities of applied science this means, among other things, that on the one hand students must be prepared for this professional situation, but on the other hand that teaching institutions are constantly dealing with students who live with impairments. This article focuses on what this means for library studies. While the topic of inclusion and libraries has often been dealt with in the literature, this does not apply to the field of library education. It is therefore necessary to draw on knowledge about inclusion in other training courses.
Laut dem Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz rund 1.8 Millionen Personen (von rund 8.8 Millionen Einwohner*innen) von einer oder mehreren Beeinträchtigungen betroffen (Bundesamt für Statistik, n.d.) Dabei kann es sich um körperliche Beeinträchtigungen handeln, beispielsweise beim Sehen, Hören oder der Bewegungsfähigkeit, aber auch um psychische. Das Bundesamt kann dabei nur die Personen erfassen, deren Beeinträchtigung bekannt ist, beispielsweise weil sie sich in einer Behandlung befinden. Es definiert diese Beeinträchtigungen über das Behindertengleichstellungsgesetz, nicht nach anderen – beispielsweise medizinischen – Kriterien. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind deshalb eine grosse Anzahl von Personen, die konkret im Alltag von Beeinträchtigungen betroffen sind, in dieser Zahl gar nicht erfasst. Was allerdings trotz diese Einschränkungen sichtbar wird, ist, dass die in der schweizerischen Bevölkerung vorhandenen Beeinträchtigungen sehr divers sind und sich auch in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen finden. Obgleich sich mit dem Alter einer Person die Risiken einer körperlichen Beeinträchtigung häufen, sind es Personen aller Altersstufen, die betroffen sind. (Der Bundesrat, 2016, pp. 8-9)
Oder anders gesagt: Menschen mit Beeinträchtigungen sind in der Schweiz – und in allen anderen Ländern, in denen die Zahlen wohl ähnlich sind – überall zu finden. Sie führen ihr Leben so gut wie möglich und im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich auch die gesellschaftliche Haltung zu ihrer Integration gewandelt. Heute wird es allgemein als Ziel angesehen, Menschen mit Beeinträchtigungen in alle Ebenen und Institutionen der Gesellschaft zu integrieren. Diese Inklusion wird dabei nicht als zusätzliches Element zum Funktionieren von Institutionen angestrebt, sondern als Reaktion auf den Normalfall: Überall gibt es Menschen mit Beeinträchtigungen, alle Menschen können betroffen sein. Wenn nicht jetzt, dann in Zukunft. (Der Bundesrat, 2016, p. 6)
Bibliotheken sind davon selbstverständlich ebenso wenig ausgeschlossen. Sowohl auf Seiten der Mitarbeiter*innen – potentiellen und solchen, die schon in Bibliotheken arbeiten – als auch auf Seiten der Nutzer*innen finden sich Menschen, die mit verschiedenen Beeinträchtigungen leben. (Brown & Sheidlower, 2021; Dube & Wade, 2021; Rondinelli, 2024) Für die bibliothekarische Ausbildung heisst dies, dass
sich auch unter den Lernenden und (potentiellen) Studierenden immer Menschen finden werden, die mit Beeinträchtigungen leben und
im Idealfall Lernende und Studierende darauf vorbereitet werden, dass sie im Bibliotheksalltag immer mit Menschen zu tun haben werden, die mit Beeinträchtigungen leben.
Der folgende Artikel wird sich darauf konzentrieren, was daraus für die bibliothekarische Ausbildung folgt. Im nächsten Abschnitt (2) wird zusammengefasst, was zu diesem Themenbereich schon bekannt ist, daraufhin (Abschnitt 3) auf die bisherige Praxis eingegangen, wobei der Fokus auf die Hochschule der beiden Autoren liegen wird. Anschliessend werden (Abschnitt 4) allgemeine Hinweise für die Praxis der bibliothekarischen Ausbildung formuliert, die sich vor allem aus der Differenz von Wissen und Praxis ergeben.
Inklusion und auch diversity-gerechte Bildung – bei der versucht wird, während der Lehre inklusiv zu handeln und gleichzeitig Studierende, Lernende oder Schüler*innen auf eine Realität vorzubereiten, in welcher inklusives Handeln notwendig sein wird – sind grundsätzlich schon oft untersuchte Themen. (Mischo, Groß-Kunkel, & Ziemen, 2022, pp. 386-388) Es gibt neben Forschungsergebnissen auch schon bestehende Infrastrukturen, gesetzliche Regelungen, Praxiserfahrungen und zum Beispiel Weiterbildungen in diesem Bereich (Der Bundesrat, 2016, pp. 14-18), allerdings selten mit einem spezifischen Blick auf Bibliotheken. Vielmehr ist der Grossteil der Forschungen und Strukturen in diesem Bereich auf Schulen gerichtet.1
Wie in der Einleitung erwähnt, gibt es in der Schweiz – und weiteren Ländern – zwar offizielle Zahlen zur Anzahl der Menschen mit Beeinträchtigungen. Diese werden aber immer wieder auch mit der Anmerkung präsentiert, dass hierbei nicht alle Formen von Beeinträchtigung erfasst werden (zum Beispiel mehrfach in den Beiträgen in Dube & Wade, 2021). Grundsätzlich ist es schwierig, nicht nur die genaue Zahl von Betroffenen zu erheben, sondern auch eine vollständige Übersicht von bekannten Beeinträchtigungen zu geben. (Gazareth, 2020, pp. 4-5) Obgleich Beeinträchtigungen oft gruppiert werden, unterscheidet sich jede Person und damit auch jede konkret existierende Beeinträchtigung. (Gazareth, 2020, p. 4) Es gibt auch viele Personen mit Beeinträchtigung, die zum Beispiel mit einer körperlichen oder physischen Situation ein gutes Leben führen können, während die gleiche Beeinträchtigung von anderen Personen als Problem wahrgenommen wird, das sich negativ auf ihre Chancen im Alltag oder ihre Lebensqualität auswirkt. Dies macht es teilweise auch in der Realität – beispielsweise im Unterricht – schwierig, angemessen zu handeln: Personen mit den gleichen Beeinträchtigungen können ganz unterschiedliche Unterstützung einfordern.
Mit Bezug auf Bildung werden die bekannten Beeinträchtigungen oft in folgende Gruppen unterteilt (Der Bundesrat, 2016, p. 10):
Körperliche Beeinträchtigungen mit Bezug auf die Mobilität
Körperliche Beeinträchtigungen mit Bezug auf das Sehen, Hören oder Sprechen
Andere körperliche Beeinträchtigungen
Psychische Beeinträchtigungen mit Bezug auf das Lernen
Psychische Beeinträchtigungen mit Bezug auf Prüfungen
Andere psychische Beeinträchtigungen, zum Beispiel Angstzustände oder chronische Depressionen
Die Liste deckt nicht alle Formen von Beeinträchtigungen ab, aber meistens werden die hier jeweils gruppierten Beeinträchtigungen je gemeinsam angegangen, zum Beispiel praktisch für alle Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen über den Abbau von physischen Barrieren für Rollstühle et cetera nachgedacht, obwohl es in der Realität verschiedene Formen dieser Beeinträchtigungen gibt.
Mit einer verstärkten gesellschaftlichen Sensibilität werden grundsätzlich immer weitere Beeinträchtigungen als solche erkannt oder anerkannt werden. Aktuell stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Long Covid eine neue Form von Beeinträchtigung darstellt und wenn ja, wie darauf reagiert werden kann. (Bundesamt für Sozialversicherungen, 2024)
Ziel all dieses Nachdenkens ist es immer, Barrieren abzubauen, so dass Menschen mit Beeinträchtigungen möglichst gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben – dies beinhaltet alle Aspekte, also auch den Arbeitsmarkt, die Politik, den Zugang zu Medizin und Wissen, aber auch die Alltagsgestaltung – teilnehmen können.
Auch das Thema Inklusion und Bibliotheken wurde schon mehrfach bearbeitet, sowohl mit Praxisberichten – die, insbesondere im Bereich Webdesign, auch auf Policies und Standards zurückgreifen (zum Beispiel Baudisch, Dittmer, & Kahlisch, 2015; Small, Myhill, & Herring-Harrington, 2015, pp. 74-77) – als auch in Abschlussarbeiten.2 (Meibauer, 2016; Reincke, 2016) Was allerdings nur selten thematisiert wird, ist, wie Bibliothekar*innen das notwendige Wissen über diese Themen erlernen. [14]
Die Praxisberichte zeigen zumeist, dass sich eine ganze Anzahl von Bibliotheken mit Fragen der Inklusion in zwei Bereichen auseinandersetzen: Auf der einen Seite versuchen Sie, die eigenen Räume, Homepages und Angebote barrierearm zu gestalten, um Nutzer*innen den Zugang zu ermöglichen. Auffällig ist, dass sich zumindest bei den Berichten oft auf jeweils eine Form der Beeinträchtigung fokussiert wird. (Ilako, Maceviciute, & Muwanguzi, 2020; Samson, 2011) Auf der anderen Seite beschäftigen sich Bibliotheken damit, selbst Arbeitsort für Kolleg*innen mit verschiedenen Beeinträchtigungen zu sein. (Dube & Wade, 2021; Oud, 2019; Reincke, 2016)
Allerdings ist ein Ergebnis von Forschungen zum Themenbereich auch, dass Bibliotheken – und vergleichbare Einrichtungen – viel mehr unternehmen, als sie nach aussen sichtbar machen. Bibliotheken sind offenbar viel mehr auf Nutzer*innen und Mitarbeiter*innen mit Beeinträchtigungen ausgerichtet, als es aus den Praxisberichten – die teilweise den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit vermitteln, so als wäre es Zufall, ob sich in einer Bibliothek für eine bestimmte Beeinträchtigung interessiert wird oder nicht – den Anschein hat. In gewisser Weise hat sich zum Beispiel barrierefreies Bauen so etabliert, dass es vielleicht nicht mehr thematisiert werden muss. Das heisst im Umkehrschluss aber auch, dass es nicht wirklich möglich ist, eine vollständige Übersicht zu diesem Thema zu erstellen, die sich auf die tatsächliche Praxis bezieht (und nicht nur die Literatur, die veröffentlicht wird).
Eine auffällige Leerstelle bei all diesen Berichten und Forschungen ist allerdings bislang, wie Bibliothekar*innen selbst mit den Herausforderungen umgehen, die durch eine inklusive Bibliotheksarbeit auch entstehen können – oder ob sie diese zum Beispiel gar nicht als Herausforderung ansehen. (Rondinelli, 2024)
Wie die Ausbildung im Bibliotheksbereich inklusiv gestaltet werden kann, ist bislang nicht Teil der Literatur. (Bright & Colón-Aguirre, 2023) Das gilt aber, wie erwähnt, so nicht für andere Ausbildungsgänge oder Bildungseinrichtungen. Für einige andere Bildungseinrichtungen, insbesondere Schule und verstärkt Kindergärten sowie andere Bildungsgebiete – insbesondere die Soziale Arbeit und die Pädagogik –, wurden schon mehrere Praxis- und Forschungsprojekte durchgeführt, über die auch publiziert wurde. Auf Wissen aus diesen kann für die bibliothekarische Ausbildung aufgebaut werden.
Wichtig zu unterscheiden sind die Perspektive der Studierenden / Lernenden – also wie nehmen Studierende / Lernende mit verschiedenen Beeinträchtigungen die aktuelle Situation wahr und wie können sie unterstützt werden – und die Perspektive der Lehrenden sowie der Ausbildungseinrichtungen – also wie nehmen diese Inklusion wahr, wie können sie diese umsetzen und auch, wie gehen sie mit auftretenden Herausforderungen um.
Studierende mit Beeinträchtigungen können sich mehr und mehr auf gesetzliche Vorgaben berufen, um Inklusion einzufordern. (Fasching & Tanzer, 2022; Gazareth, 2020) Dabei werden sie zum Teil von Vereinen – in der Schweiz insbesondere von den in der Dachorganisation Pro Infirmis organisierten –, von Fach- und Beratungsstellen – die wiederum oft auf der Basis gesetzlicher Bestimmungen eingerichtet werden – sowie vergleichbaren Einrichtungen unterstützt. Gerade durch das Engagement der in Pro Infirmis organisierten Organisationen sind in den letzten Jahren auch richtungsweisende Gerichtsentscheidungen getroffen worden (vgl. zusammenfassend die Jahresberichte von Pro Infirmis, zuletzt Pro Infirmis, 2024) Die Gesetze der einzelnen Staaten im Bereich Inklusion und die Auslegungen auf Ebene der Kantone gleichen sich – trotz aller Unterschiede – offenbar immer mehr an.
Allerdings ist der Weg der Klage eine für viele (potentielle) Studierende denkbar schlechte Lösung. Es ist eher die letzte Möglichkeit. Vielmehr wird auch bei Konflikten zwischen Studierenden und Ausbildungseinrichtungen eher auf Beratung durch Fachstellen gesetzt. Nicht selten wird von Studierenden auch versucht, ihre Situation individuell zu klären, wobei sie oft auf Atteste von Ärzt*innen und Therapeut*innen zurückgreifen. Die Literatur gibt keine Hinweise darauf, wie oft diese einzelnen Strategien gewählt werden (müssen) und wie erfolgreich sie sind.
Auch ist nicht klar, wie oft potentielle Studierende durch (mögliche) Konflikte abgehalten werden, ein Studium aufzunehmen oder, wenn einmal begonnen, bei Problemen nicht abzubrechen, weil diese Wege als zu schwierig angesehen werden. Vielmehr gibt es Berichte dazu, wie viele Personen mit Beeinträchtigungen die Herausforderungen abschrecken und gleichzeitig auch Berichte darüber, wie erfolgreich diese Aushandlungen, Beratungen oder Gerichtsverfahren sind.
Schaut man, um welche Fragen es Studierenden mit Beeinträchtigungen zumeist geht, wenn es zu solchen Aushandlungen kommt (Fasching & Tanzer, 2022; Fasching, Geppert, & Makarova, 2017; Goth & Severing, 2015), dann sind dies folgende Themen:
Barrierearme Infrastrukturen
Barrierearme Studienmaterialien und -aufgaben
Nachteilsausgleich bei Prüfungen oder alternative Prüfmethoden
Barrierearme Infrastrukturen umfassen einmal die konkrete Ausstattung der Unterrichtsorte, also zum Beispiel des Hochschulgebäudes und der Unterrichtsräume, bei denen gefragt wird, ob sie mit Rollstühlen zugänglich sind oder aber, ob es Studierenden mit Sehbeeinträchtigungen möglich ist, in ihnen zu navigieren. Aber es bezieht sich auch darauf, wie das Studium konkret organisiert ist, also ob zum Beispiel die Unterrichtszeiten so geplant sind, dass die Unterrichts- und Pausenräume überhaupt erreicht werden können oder eben nur von Personen ohne Beeinträchtigungen. Über den konkreten Unterricht hinaus geht es dabei um die Organisation des Studiums, beispielsweise wie einfach oder schwierig es ist, bei möglichen Problemen Rücksprache mit der Studiengangsleitung zu halten.
Bei den barrierearmen Studienmaterialien und -aufgaben geht es zumeist darum, wie diese Materialien aufbereitet sind und präsentiert werden. Es geht oft um die Einhaltung von Standards bei der Erstellung von Homepages, PDF-Dateien oder anderen digitalen Daten, aber auch der Möglichkeit des Einsatzes von technischen Hilfsmitteln. Relevant ist dies, weil eine wachsende Anzahl von Hilfsmitteln existiert, die vor allem dann gut funktionieren, wenn Standards eingehalten werden. Diese Hilfsmittel sind immer öfter nicht explizit für Menschen mit Beeinträchtigungen entworfen worden. Beispielsweise werden oft Vorlesefunktionen von Apps genutzt, um digitale Dokumente zu erfassen.
Bei Nachteilsausgleichen und Beratungen geht es oft darum, wie die Prüfungen gestaltet werden und ob es Möglichkeiten gibt, sie so anzupassen, dass ein fairer Vergleich mit Menschen ohne Beeinträchtigungen möglich ist. Dabei ist selbstverständlich immer die jeweilige Beeinträchtigung relevant: Nicht für alle Prüfungen sind solche Ausgleiche notwendig. Allerdings sind es gerade nicht-sichtbare Beeinträchtigungen, für die sie benötigt werden, also eher bei Angstzuständen und Lernschwierigkeiten als bei motorischen Beeinträchtigungen.
All dies – der Nachteilsausgleich, barrierearme Räume und Infrastrukturen sowie barrierearme Studienmaterialien – stehen teilweise im Widerspruch zum Ziel vieler Hochschulen, möglichst innovativ und flexibel zu sein. Beispielsweise werden flexibel zu nutzende Lernräume gebaut, in denen Möbel verschoben und umgenutzt werden können, um auch den Unterricht abwechslungsreich gestalten zu können. Aber Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen profitieren davon, wenn Räume sich selten oder gar nicht verändern, also wenn zum Beispiel Stühle und Tische immer am gleichen Ort stehen.
Nur selten thematisiert werden Diskriminierungen aufgrund von Beeinträchtigungen. Auch wenn es immer wieder Umfrageergebnisse dazu gibt, dass sich Menschen mit Beeinträchtigungen im Studium, anderen Ausbildungen oder dem Zugang zum Arbeitsmarkt benachteiligt sehen (Pro Infirmis, 2024), scheint dies immer weniger daran zu liegen, dass sie aktiv ausgegrenzt werden. Dazu beigetragen haben gewiss rechtliche Regelungen, aber auch ein allgemeiner gesellschaftlicher Wandel.
Eine interessante Herausforderung ist, dass nicht alle Beeinträchtigungen immer relevant für die Studiensituation sind und Studierende mit Beeinträchtigungen selbst darüber entscheiden wollen, wie sehr ihre Beeinträchtigungen überhaupt erwähnt oder bedacht werden. Einige Beeinträchtigungen sind sichtbar, beispielsweise weil Personen einen Rollstuhl benutzen. Andere aber, beispielsweise Angstzustände, nicht. Einige Studierende mit diesen Beeinträchtigungen wollen diese beachtet wissen, andere nur situativ, wieder andere überhaupt nicht.
In der Literatur herrscht Einigkeit, dass eine inklusive Lehre idealerweise so organisiert ist, dass Studierende (a) ihre Beeinträchtigung möglichst nicht anzeigen müssen, wenn sie das nicht wünschen und (b) dass doch so geplant werden soll, dass zum Beispiel Personen mit Lernschwierigkeiten auch dem Unterricht folgen können. Im Idealfall soll also eine Person mit Beeinträchtigung im gesamten Studium mit bedacht werden, ohne dass sie sich je dazu äussern muss, eine solche zu haben. Dies wird auch oft damit begründet, dass ein solches „Mit-Bedenken“ immer auch anderen Personen Vorteile bietet.3
Am seltensten im Fokus von Berichten oder Forschung sind die Lehrenden an Hochschulen selbst, welche einen inklusiven Unterricht aber praktisch umsetzen müssen.4 (Becker et al., 2022; Moriña Díez, López, & Molina, 2014) In den wenigen Texten zeigt sich aber, dass die Lehrenden an sich zumeist eine grundsätzlich positive Haltung haben: Im Prinzip tragen die meisten das Ziel, dass das Studium für alle Personen zugänglich sein sollte, egal mit welchen Beeinträchtigungen diese eventuell leben, mit. Aber in der Praxis fühlen sie sich meist überfordert mit der Gestaltung eines Unterrichts, welcher diesen Ansprüchen genügt und teilweise bei der Umsetzung auch von ihren Hochschulen alleingelassen.
Es gibt wenig Wissen zum integrativen Unterricht und auch wenig Angebote, um dieses Wissen aktiv zu erwerben. Zumeist fehlen organisierte Möglichkeiten, die eigenen Erfahrungen im Unterricht mit Kolleg*innen zu diskutieren und zu reflektieren. Beispielsweise ist selten bekannt, welche technischen Hilfsmittel es gibt und wie sie eingesetzt werden oder auch, welche Standards existieren.
Insoweit fühlen sich viele Lehrende auf sich selbst und ihr eigenes Engagement zurückgeworfen. Wenn man die Erfahrungen aus Schulen hier übertragen kann, in denen gerade diese wahrgenommene Überforderung zu teilweiser Ablehnung inklusiven Unterrichts durch Lehrpersonen führt, kann man dies zumindest als Gefahr auch im konkreten Studium vermuten.
Es gibt bislang keine Übersicht darüber, wie in Hochschulen mit bibliothekarischer Ausbildung konkret das Studium mit Bezug auf Inklusion für Menschen mit Beeinträchtigungen umgesetzt wird. Auch dieser Artikel wird diese Übersicht nicht leisten. Er entstand im Rahmen eines internen Vorprojekts am Schweizerischen Institut für Informationswissenschaft (SII) an der Fachhochschule Graubünden (FHGR), welches überhaupt die Notwendigkeit und die Möglichkeiten des Aufbaus von Kompetenzen in diesem Bereich eruieren sollte. Gezeigt werden kann hier, als Case Study, also nur eine Übersicht mit Bezug auf die Praxis in dieser Hochschule.
Es zeigt sich aber, dass auch an der FHGR der zuvor generell für Hochschulen und Bibliotheken gezeigte Zwiespalt existiert: Auf der einen Seite gibt es eine grundsätzlich positive Haltung zum Ziel, das Studium für alle Personen zu ermöglichen. Es gibt auch einige Punkte, die schon etabliert sind. Aber diese Punkte werden fast nie nach aussen – und auch nur selten nach innen – vermittelt. Es ist also für potentielle Studierende – und auch Bibliotheken, welche die Ausbildung empfehlen könnten, beispielsweise als Aufstiegsfortbildung für ihre eigenen Mitarbeiter*innen – kaum möglich, davon zu erfahren. Zudem gibt es keine institutionalisierten Routinen, welche Lehrende direkt unterstützen würden.
Grundsätzlich sind selbstverständlich gesetzliche Vorgaben umgesetzt. Die Unterrichtsräume der FHGR sind, soweit möglich, barrierearm gestaltet. Die Räume sind auch mit technischen Hilfsmitteln für den Unterricht – insbesondere Beamern – ausgestattet, welche die Anzeige von Medien ermöglichen. Zugleich werden Unterrichtsmaterialien im Normalfall digital zur Verfügung gestellt. Die Möbel der meisten Räume sind wenig flexibel, das heisst sie sind nur mit einigem Aufwand zu bewegen. Aber dies ist, wie erwähnt, für eine Anzahl von Menschen mit Beeinträchtigungen eher von Vorteil.
Zudem werden für Menschen mit Beeinträchtigungen individuelle Lösungen gesucht. Beispielsweise ist es normal, dass bei Prüfungen Nachteilsausgleiche gewährt werden oder dass Hilfsmittel, welche die betreffenden Studierenden mitbringen, genutzt werden (zum Beispiel Übertragungsgeräte für Personen mit Hörschwierigkeiten). Die Studiengangsleitung reagiert auf Anfragen von betroffenen Studierenden und hält zum Beispiel auch den Kontakt zu Therapeut*innen, welche bestimmte Studierende unterstützen. Dozierende erhalten Informationen über diese Studierenden nur, wenn es notwendig ist, das heisst wenn es ihren konkreten Unterricht betrifft.
Es gibt eine psychologischen Beratung, die Studierende beispielsweise bei Lernschwierigkeiten, Prüfungsangst oder anderen psychologischen Problemen in Anspruch nehmen können.
Allerdings gibt es keine Beratungen, Weiterbildungen et cetera für die Lehrenden selbst. Diese erhalten, wenn nötig, Informationen und können sich zum Beispiel mit der Studiengangsleitung abstimmen. Aber es gibt keine etablierte Kommunikation zum Thema, auch keine gemeinsam aufgebaute Wissensbasis.5 Beratungs- und Unterstützungsangebote, beispielsweise von den in Pro infirmis organisierten Vereinen, scheinen nicht in Anspruch genommen zu werden.
Es gibt zum Beispiel auch keine Information über die Möglichkeiten technischer Unterstützung von Studierenden, die als „Normalisierung“ gelten können. Ein Beispiel hier ist, dass es für Lehrende die Anforderung gibt, den jeweiligen Unterricht aufzuzeichnen. Dies ist mit der technischen Ausstattung auch gut möglich und führt dazu, dass die Aufzeichnungen den Studierenden nach dem Unterricht relativ konfliktlos zur Verfügung stehen, was hilfreich sein kann, um diesen Unterricht nachzuarbeiten oder noch einmal langsamer zu verfolgen. Allerdings: Dass dies eine Möglichkeit ist, Studierenden mit Beeinträchtigungen einen besseren Unterricht zu ermöglichen, wird nicht thematisiert. Deshalb wird es von vielen Lehrenden wohl auch nicht in die Planung ihres Unterrichts einbezogen, was dazu führen kann, dass im Sinne der Abwechslung gewählte Aufgabenformate gerade nicht aufgezeichnet werden können.
Für die Praxis des bibliothekarischen Studiums zeigt die Übersicht hier, dass die Situation an sich nicht negativ ist, aber besser werden kann. Es scheint nicht mehr notwendig, zu argumentieren, warum inklusiver Unterricht durchgeführt werden sollte. Aber – ebenso wie in Bibliotheken – wirkt es so, dass auf lokaler, individueller Ebene zwar viel gemacht wird, aber nach aussen nicht sichtbar ist. Und dass das, was getan wird, auch wenig strukturiert erfolgt.
Notwendig ist in der konkreten Lehre und der Planung von rein individuellen Regelungen für einzelne Studierende wegzukommen hin zu einer Normalisierung und Sichtbarmachung von Inklusion. Die individuellen Regelungen sind alle positiv gemeint, bedingen aber, dass betroffene Studierende zumindest gegenüber der Studiengangsleitung ihre Beeinträchtigungen anzeigen und ihre Beachtung einfordern. Obgleich, wie gesagt, im Fall des SII – und wohl auch anderer Ausbildungsstätten – versucht wird, auf jeden individuellen Fall einzugehen, können Personen mit Beeinträchtigungen nicht davon ausgehen, dass sie eine solche Situation vorfinden. Das baut für sie eine weitere, unnötige Hürde auf. Dadurch, dass ein Eingehen auf individuelle Beeinträchtigungen zum Normalfall gemacht und dies auch nach aussen sichtbar wird, würde dieser Druck von (potentiellen) Studierenden genommen.
Ein wichtiger Punkt ist der Aufbau von Strukturen, die Lehrpersonen unterstützen, inklusiven Unterricht durchzuführen sowie die Vermittlung von dafür notwendigem Wissen. Dieses Wissen kann – wie angedeutet bei der Nutzung von schon existierenden elektronischen Hilfsmitteln oder der Bedeutung, welche der Aufzeichnung des Unterrichts zukommt – relativ basal sein. Aber es sollte angeboten und nicht dem Eigenengagement der Lehrenden überlassen werden, es sich anzueignen. Insbesondere sollten Möglichkeiten geschaffen werden, Erfahrungen, auch Probleme und Ängste, mit anderen Lehrenden zu besprechen. Da das bibliothekarische Studium im DACH-Raum heute immer an Hochschulen angesiedelt ist, die auch viele weitere Studiengänge umfassen, muss dies nicht im Rahmen des bibliothekarischen Studiums alleine geschehen, sondern kann als Aufgabe an die jeweilige Hochschule abgegeben werden.
In diesem Text konnte nur ein erster Überblick zum Themengebiet Inklusion in der bibliothekswissenschaftlichen Ausbildung gegeben werden. Dieser Überblick zeigt jedoch, dass das Thema an sich eine positive Entwicklung genommen hat. Dazu beigetragen haben wohl auch gesetzliche Vorgaben und ein allgemeiner Kulturwandel. Zu stocken scheint allerdings die Vermittlung von Wissen über die Möglichkeiten inklusiven Unterrichts, der Austausch über dieses Wissen oder gemachte Erfahrungen sowie die Sichtbarmachung der schon vorhandenen Möglichkeiten.