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Digital Humanities und Bibliotheken: Traditionen und Transformationen

Published onApr 20, 2021
Digital Humanities und Bibliotheken: Traditionen und Transformationen
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Abstract

Für die Geisteswissenschaften sind Bibliotheken als Gedächtnisinstitutionen sowie als Labor und Echokammer geisteswissenschaftlicher Forschung besonders wichtig. Die digitale Transformation der Forschungsobjekte verändert und erweitert die Rolle der Bibliotheken im Forschungsprozess, der ebenfalls immer mehr auf digitalen Methoden und Prozessen beruht. Die Institutionalisierung der Digital Humanities in der akademischen Forschungslandschaft bietet daher auch für Bibliotheken Chancen und Perspektiven der Mitgestaltung.

For the humanities, libraries are particularly important as memory institutions and as laboratories and echo chambers of research. The digital transformation of research objects is changing and expanding the role of libraries in research processes which are also increasingly based on digital methods and processes. The institutionalisation of the digital humanities in the academic research landscape therefore also offers libraries opportunities and perspectives for co-design.

1. Einleitung

Als Gedächtnisinstitutionen verantworten Bibliotheken – gemeinsam mit Archiven und Museen – den professionellen Zugang zum kulturellen und wissenschaftlichen Erbe und zum historischen und aktuellen Wissen. Dadurch sind sie seit jeher ‚Labore‘ und ‚Echokammern‘ der Wissenschaften. Vielleicht trifft dies für die Geisteswissenschaften in besonderer Weise zu, denn häufig werden bereits deren Forschungsgegenstände, nicht nur die Forschungsergebnisse in Bibliotheken verwahrt. Dieses Verwahren ist nicht statisch oder passiv, sondern vielmehr geprägt von verschiedenen Aktivitäten, zum Beispiel dem gezielten Sammeln, Ordnen, Strukturieren, Erschließen und nicht zuletzt auch dem Aussondern. Nur erst durch diese Aktivitäten wird die Erforschung der Bestände ermöglicht, erst dadurch entsteht dieser Arbeits- und Wissensverbund von Bibliothek und Forschung mit Durchlässigkeiten, Brücken und Pfaden zwischen den Einrichtungen. Dieses fruchtbare Verhältnis muss seine Fortsetzung auch bei digital(isiert)en Beständen und digitalen Forschungsansätzen in den Geisteswissenschaften finden. Digital Humanities (DH) haben damit ihren selbstverständlichen Ort und ihre selbstverständlichen Dialogpartnerinnen in Bibliotheken. (Neuroth, 2017) Der folgende Beitrag möchte zum einen die DH und ihr(e) Profil(e) näher charakterisieren, die Bedeutung digital(isiert)er Forschungsgegenstände in den Geisteswissenschaften betrachten und daraus die Rolle von Bibliotheken in den Digital Humanities – oder auch umgekehrt – die Rolle der DH in Bibliotheken mit einem Schwerpunkt auf dem deutsch(sprachig)en Bereich in den Blick nehmen.

2. Vielfalt des kulturellen Erbes, Vielfalt der Forschungsdaten

Kulturelles Erbe in seinem weiten Sinne und Wissensbestände sollen in diesem Beitrag für die Gesamtheit der Forschungsgegenstände stehen, mit denen sich die Humanities, die Geistes-, Kultur- und in Teilen auch die Sozialwissenschaften1 befassen. Das umfasst die materiellen und immateriellen Aktivitäten und Schöpfungen oder Erzeugnisse des Menschen2 sowie ferner allgemein die Wissensbestände der Menschheit.

Im Zuge der immer weitergehenden Digitalisierung oder auch Digitalität nicht allein der Wissenschaft, sondern praktisch aller Lebensbereiche wurde in der letzten Dekade eine Vielzahl von Impuls-, Diskussions-, Positions- und Empfehlungspapieren verfasst. (Katerbow, Kümmel, Crispin, & Kerremans, 2020)3 Darin wurden Definitionen, Verortungen, Chancen, Herausforderungen und Kritik in Bezug auf Digitalität von Forschungsgegenständen, ‑methoden und ‑prozessen formuliert. Bereits 2011 betonte der Wissenschaftsrat die immense Bedeutung von Infrastrukturen und Forschungsdaten für wissenschaftliche Innovationen:

Forschungsinfrastrukturen leisten in allen Wissenschaftsbereichen wesentliche Beiträge zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, zur wissenschaftlichen Beantwortung von Fragen gesellschaftlicher Relevanz sowie zur internationalen Anschlussfähigkeit dieser Anstrengungen. (…) sie wandeln sich von tradierenden und Fachinformationen bevorratenden Hilfseinrichtungen zu Inkubatoren für neue und innovative wissenschaftliche Fragestellungen aufgrund von Forschungsdaten, die durch diese Infrastrukturen selbst erst erzeugt werden. (…) Digital aufbereitete Fachinformationen bieten durch ihre Verknüpfung mit Metadaten ganz neuartige Möglichkeiten der forschenden Erschließung von Bibliotheks-, Archiv- und Sammlungsbeständen. (Wissenschaftsrat, 2011)

Der in der Folge einberufene Rat für Informationsinfrastrukturen widmete eines seiner ersten Empfehlungspapiere dem Forschungsdatenmanagement und der Roadmap für eine Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI). Dieses Papier enthält auch eine ‚generische‘ Definition von Forschungsdaten: „Daten, die im Zuge wissenschaftlicher Vorhaben entstehen, zum Beispiel durch Beobachtungen, Experimente, Simulationsrechnungen, Erhebungen, Befragungen, Quellenforschungen, Aufzeichnungen, Digitalisierung, Auswertungen.“ (Rat für Informationsinfrastrukturen, 2016, A-13) Für die Geisteswissenschaften hat das DARIAH-Stakeholdergremium „Wissenschaftliche Sammlungen“, an dem zahlreiche Gedächtnisinstitutionen und Forschende beteiligt waren, eine allgemeine Definition erarbeitet:

Daten, unabhängig ihrer Provenienz, werden im Kontext einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsfrage zu digitalen Forschungsdaten, sobald sie gesammelt, beschrieben, ausgewertet und/oder erzeugt und in maschinenlesbarer Form zum Zwecke der Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen sowie zur Archivierung, Zitierbarkeit und Weiterverarbeitung aufbewahrt werden. Eine Aggregation von Forschungsdaten (n>1) ist in diesem Sinne eine Wissenschaftliche Sammlung. (Oltersdorf & Schmunk, 2016, 181; vgl. auch Klaffki, Schmunk, & Stäcker, 2018)

Demnach gehören sämtliche digitalen Daten, die bei Experimenten, (Ver)Messungen, Simulationen, Quellenerschließungen, Transkriptionen, Editionen, Erhebungen, Grabungen, Verzeichnissen, Aufnahmen oder Umfragen und so weiter entstehen oder deren Ergebnis sind, zu den geisteswissenschaftlichen Forschungsdaten. Sie umfassen alle Modalitäten wie Texte, Bilder, mehrdimensionale Modelle, Audio, Video, Tabellen, Datenbanken, Software (Quellcode und Anwendungen), fach- und gerätespezifische Rohdaten (neben Materialanalysen zum Beispiel auch Eye-Tracking und EEG-Daten) sowie die zu ihrem Verständnis erforderliche Dokumentation und Software. Diese Daten liegen disziplinspezifisch in unterschiedlichen Aggregationsstufen und meist in verschiedenen speziellen digitalen Formaten vor. Diese Forschungsdaten bilden die Voraussetzung für die Digital Humanities, deren Geschichte, Selbstverständnis und Institutionalisierung im Folgenden näher betrachtet werden sollen.

3. Digital Humanities

Die Geschichte der DH ist mittlerweile selbst zum Forschungsgegenstand avanciert. (vgl. z.B. Nyhan & Flinn, 2016; Gärtner, 2016; Bernhart, 2021) Nach einem kursorischen Blick auf ihre Anfänge und ihre Entwicklung sollen in diesem Abschnitt auch Definitionen und Beschreibungen aus der Community der Digital Humanists zur Sprache kommen, denn es gehört zum Selbstverständnis dieser zumeist als ‚junge Disziplin‘ charakterisierten DH, zu beschreiben, was ihre Mitglieder darunter verstehen. Der Stand der Institutionalisierung in Deutschland und darüber hinaus ist unter der Perspektive von Bibliotheken und ihrem Verhältnis zu den DH besonders interessant.

3.1 Geschichte, Definitionen, Institutionalisierung

Seit es den Computer gibt, nutzen Geisteswissenschaftler:innen seine Möglichkeiten. Sicherlich war dies in den Anfängen ein Nischengeschehen, dennoch gab es mit jedem technischen Schub auch eine Intensivierung beziehungsweise Verbreiterung der Technologienutzung in den Geisteswissenschaften. Allgemein wird Roberto Busa SJ mit seiner Arbeit am ‚Index Thomisticus‘ als „Gründungsvater“ der DH angesehen. (Thaller, 2017; Nyhan & Passarotti, 2019; Terras, 2013) Rückblickend formulierte er seine Verortung von Computereinsatz in den Geisteswissenschaften (er verwendet die ältere Bezeichnung Humanities Computing und nicht das seit circa 2000 verwendete Digital Humanities) folgendermaßen:

During World War II, between 1941 and 1946, I began to look for machines for the automation of the linguistic analysis of written texts. I found them, in 1949, at IBM in New York City. Today, as an aged patriarch (born in 1913) I am full of amazement at the developments since then; they are enormously greater and better than I could then imagine. Digitus Dei est hic! The finger of God is here! (…) Humanities computing is precisely the automation of every possible analysis of human expression (therefore, it is exquisitely a "humanistic" activity), in the widest sense of the word, from music to the theater, from design and painting to phonetics, but whose nucleus remains the discourse of written texts. (Busa, 2004)

Mit dem Zitat „Digitus Dei est hic!“ verweist Busa in der für ihn typischen Art anspielungsreich auf seine eigene Ordensgeschichte als Jesuit, stellt sich und die Forschung mit digitalen Methoden in die Tradition dieses Ordens, der sich besonders der Bildung und Forschung annimmt und verweist zugleich auf die Gründung eines neuen Forschungszweigs mit besonderem Anspruch.4

Anhand der Geschichte des Index Thomisticus lässt sich exemplarisch die Geschichte des Computereinsatzes in den Geisteswissenschaften entlang des Technologiewandels und der sich stetig erweiternden Möglichkeiten erzählen. Busa und sein Team starteten mit Lochkarten: 13 Millionen Lochkarten, eine für jedes Wort mit zwölf Zeilen Kontext auf der Rückseite: 90 m lang, 1,20 m hoch, 1 m tief, Gewicht 500 Tonnen. Es folgte die Übertragung auf Magnetbänder: 1.800 Bänder, jedes 2.400 Fuß lang, zusammen 1.500 km, die Strecke Paris-Lissabon oder Mailand-Palermo. Auf 20 Bändern war die Druckvorlage gespeichert, sie umfasste 20 Millionen Zeilen, 65.000 Seiten, 56 Bände in Enzyklopädie-Format – das ist der Index Thomisticus als Buch (was auch Papst Paul VI. wohlgefällig begutachtete5). Die Digitale Publikation begann 1987 mit Vorbereitungen für die Übertragung auf CD-ROM (1992) und umfasste 1,36 GB Daten. Das Corpus Thomisticum6 ist Open Access verfügbar und wird nach wie vor als Forschungsressource genutzt. (Busa, 1980; Rockwell & Passarotti, 2019)

Early Adopters digitaler „nichtnumerischer“ Technologien waren jedoch sicherlich auch die Bibliotheken, die in den 1960er Jahren begannen, Kataloge digital aufzubereiten und zu verwalten und dafür Regelwerke, Standards und Formate (weiter)entwickelten. Bis heute sind Bibliotheken in bestimmten Bereichen auch Innovationstreiber und Gestalter dieses digitalen Wandels. So bilden beispielsweise Normdaten eine entscheidende Voraussetzung für die semantische Vernetzung und Erschließung von Daten und Wissen. (Boßmeyer, 2017)

3.2 Die Digital Humanities im Selbstbild der Digital Humanists

Die seit 2009 bestehende Initiative ‚Day of DH‘ ist ein communitygetriebenes social publication project, das den Arbeitsprozess, den Arbeitsalltag und das Selbstverständnis der Community reflektiert und beschreibt: „Day of DH is a project that examines the state of the digital humanities through the lens of those within it.“7 DH-Aktive finden sich seitdem einmal im Jahr an einem Tag auf einer Plattform zusammen und beschreiben ihren Forschungs- und Arbeitsalltag. Beim Anmelden auf der Plattform wird man nach seiner Definition von DH gefragt, so dass auf diese Weise über die Jahre ein facettenreiches ‚Selbstportrait‘ samt differenzierter Entwicklungen entstanden ist.8

Julia Flanders, die unter anderem mit dem Women Writers Project9 und Stationen an der Brown und der North Eastern zu den prominenten Figuren der DH an der Schnittstelle von Bibliothek, Informatik und Philologie gehört10, betont genau die Wechselwirkungen von Technologie und Theorie und Praxis der Geisteswissenschaften:

Digital humanities studies the intersection and mutual influence of humanities ideas and digital methods, with the goal of understanding how the use of digital technologies and approaches alters the practice and theory of humanities scholarship. (…) This includes the creation of digital editions and digital text or image collections, and the creation and use of digital tools for the investigation and analysis of humanities research materials.“11

Dabei gehört für sie nicht allein die Erstellung  von Editionen, sondern auch bereits die Digitalisierung von Sammlungen und Korpora zum Forschungsprozess der DH, genauso wie die Entwicklung von Forschungswerkzeugen.

Brett Bobley, CIO beim National Endowment for the Humanities (NEH) und dort auch Director of the Office of Digital Humanities12 betont die Verwendung von DH als ‚umbrella term‘, unter dem sich eine Vielfalt an Aktivitäten und Entwicklungen fassen lässt:

I use ‘digital humanities‘ as an umbrella term for a number of different activities that surround technology and humanities scholarship. Under the digital humanities rubric, I would include topics like open access to materials, intellectual property rights, tool development, digital libraries, data mining, born-digital preservation, multimedia publication, visualization, GIS, digital reconstruction, study of the impact of technology on numerous fields, technology for teaching and learning, sustainability models, media studies, and many others. It became way too exhausting to recite that entire list whenever I spoke with someone, so ‘digital humanities’ seemed to nicely summarize the issues. (Plus, it sounded better to me than ‘e-humanities’, which is what I used to use!) (Gavin & Smith, n.d.)

Auch hier fällt die selbstverständliche Nennung typischer informations- und bibliothekswissenschaftlicher Arbeitsfelder auf, wobei konstatiert werden kann, dass die Verbindung von Bibliothek und (philologischer) Forschung beziehungsweise scholarship in den anglophonen Ländern immer wesentlich enger war als in Deutschland beziehungsweise den deutschsprachigen Ländern. Diese beiden exemplarisch gewählten Definitionen zweier erfahrener Digital Humanists zeigen sehr schön die Bandbreite dessen auf, was wir alles unter diesem Begriff zusammenführen können.

3.3 Institutionalisierung der Digital Humanities

Obwohl die DH immer noch reflexhaft als ‚Junge Disziplin‘ apostrophiert werden und der Selbstdefinitions‑ und ‑verortungsprozess fortgesetzt wird, sind die Institutionalisierung und der Etablierungsprozess in der Breite längst Realität.13 So formulierte Steven Ramsay bereits 2011:

Digital Humanities is not some airy Lyceum. It is a series of concrete instantiations involving money, students, funding agencies, big schools, little schools, programs, curricula, old guards, new guards, gatekeepers, and prestige ... 14

Stichweh definiert eine Disziplin als „primäre Einheit interner Differenzierung der Wissenschaft“ (Stichweh, 1994, 17). Dies korrespondiert mit organisatorischen Einheiten wie Fachbereichen, Fakultäten, Instituten, Fächern oder Arbeitsgebieten. Konstituierend für wissenschaftliche Disziplinen sind in der Regel eine Scientific Community, ein wissenschaftlicher Kanon von Forschungsliteratur und Lehrbüchern, spezifische Fragestellungen, Forschungsmethoden sowie Karrierestrukturen. (Balsinger, 2005, 72) Legt man diese Kriterien an, so werden sie von den DH auch in den deutschsprachigen Ländern erfüllt:15 Der Verband Digital Humanities im deutschsprachigen Raum bringt auf seinen Jahrestagungen eine stetig wachsende Community von Hunderten von Teilnehmenden zusammen.16 Als deutschsprachige Fachzeitschrift ist die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, die vom Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel herausgegeben wird, hervorzuheben, die auch innovative Formen von Open Peer Review propagiert.17 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von ‚niedrigschwelligen‘ Open-Access-Reihen wie die DARIAH Working Papers oder die Working Papers in Digital Philology.18 Die Zahl der Professuren ist in der letzten Dekade immens angewachsen19, genauso wie die der Studiengänge, die zumeist als spezialisierte Master-of-Arts-Studiengänge konzipiert sind, Master-of-Science und BA-Studiengänge folgten jedoch.20 An fast allen größeren Bibliotheken in Deutschland wurden DH-Bibliotheksreferendariate ausgeschrieben und eingerichtet.21 Statistische Übersichten über Promotionen und Habilitationen sind (zumindest in Deutschland) noch immer unvollständig, obwohl mittlerweile eine statistische Berichtspflicht besteht.22 Zudem laufen DH-Promotionen und Habilitationen zumeist noch unter anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit und entsprechende Veniae sind noch selten. Die DH haben entscheidende Schübe durch politische Steuerung erfahren, durch spezifisch ausgelobte Förderprogramme der einschlägigen Förderinstitutionen.23

4. Geisteswissenschaftliche Forschungskulturen und digitale Transformationen

Die Geisteswissenschaften werden traditionell als hermeneutisch und qualitativ forschende Wissenschaften charakterisiert (Riedel, 1995; Diemer, 2017), während insbesondere die Naturwissenschaften als die empirischen, messenden und quantitativen Disziplinen bezeichnet werden. Diese Zuspitzung auf die ‚two cultures‘24 greift für eine differenzierte Beschreibung sicherlich zu kurz, markiert aber dennoch ein Themenfeld, das auch die Diskussionen um die Ausrichtung und Verortung der DH bestimmt. (Krämer & Huber, 2018)

Geisteswissenschaftliche Forschungskulturen umfassen Tätigkeiten, die sich um die Aneignung und Repräsentation der oben beschriebenen kulturellen Aktivitäten und Erzeugnisse des Menschen drehen: Bewahren und Archivieren (aber auch Aussondern, Vergessen und Vernichten), Kopieren, Weitergeben, Aktualisieren und Verändern, Verzeichnen und Erschließen, Edieren, Kommentieren und Erläutern, Analysieren und Auswerten (auch quantitativ), Verknüpfen und Inbezugsetzen, Deuten und Verstehen. Dabei handelt es sich um einen prinzipiell unabgeschlossenen und immer wieder zu erneuernden Prozess. In einer digital organisierten Gesellschaft besteht dieser Zugang zu den Quellen mittlerweile auch für die „traditionellen“ Geisteswissenschaftler:innen praktisch immer aus einem digitalen Nachweis, zum Beispiel einem Bibliothekskatalog oder einem archivischen Findbuch, und immer häufiger auch aus dem digitalen Surrogat der Quelle oder des Artefakts, mit dem die Forschenden sich beschäftigen. Geisteswissenschaften benötigen daher eine Forschungsinfrastruktur, die den Nachweis und den freien und ungehinderten Zugang zu allen diesen kulturellen Erzeugnissen sowie zu allen ihren digitalen ‚Repräsentationen‘ umfasst. Nur das ist eine Infrastruktur, die die zuvor genannten Aneignungsprozesse erlaubt und unterstützt.

Digitalisierung ist kein punktueller Vorgang, der in der ‚Momentaufnahme‘ des zu digitalisierenden Objekts besteht, sondern ein umfangreicher Prozess, der einen ausdifferenzierten Workflow und bestimmte fachliche, technologische und politische Entscheidungen erfordert. Sie hängen mit einer ‚digitalen Quellenkritik‘25 sowie einer notwendigen Reflexion über die epistemischen Eigenschaften digital(isiert)er Objekte zusammen. (Bender, Kollatz, & Rapp, 2018) Eine Reihe von Fragen lässt sich hier auffächern, beispielsweise diejenige danach, welche Eigenschaften des analogen Objekts wie transformiert beziehungsweise verändert werden (optische, haptische). Dazu kommt eine neue digitale Kontextualisierung und Inszenierung des Objekts durch Einbettung in inhaltliche, technologische, mediale, ästhetische und funktionale Zusammenhänge, wie sie Forschungsumgebungen, Viewer, Portale, Repositorien, Interfaces und Devices bieten. Einschreibung von (neuem) Wissen in die digital(isiert)en Objekte geschieht zum Beispiel durch die Bildung von (flexiblen, fluiden, individuellen) Kollektionen, Korpora und Aggregationen, insbesondere jedoch vor allem durch Metadaten, die eine Fülle von Informationen integrieren können: zum einen explizieren sie inhärentes Wissen, zum Beispiel Weltwissen, Sprachwissen, Kohärenz, Layout, zum anderen fügen sie neues Wissen, neue Inhalte, Strukturen, Deutungen hinzu. Und nicht zuletzt ermöglichen Technologien in der Begegnung mit dem digitalen Objekt neue ‚haptische‘, mediale und ästhetische Erfahrungen (zum Beispiel Auflösung, Ausschnitt, Farbkalibrierung, Spektralaufnahmen und so weiter). (Gehring & Rapp, 2018)

Daher ist bereits die Erstellung digitaler Objekte ein zentraler Teil des geisteswissenschaftlichen Forschungsprozesses mit weitreichenden Konsequenzen, wie beispielsweise Wido van Peursen  energisch betont hat:

… the creation of digital objects (…) is a crucial part of humanities research. (…) This is a fundamental difference between data-bases as they are used in the humanities and those that are used in the natural sciences. The way in which inscriptions are photographed or in which text corpora are transcribed and encoded, is crucial for the way in which these research objects will be studied in the future. (Van Peursen, 2010)

Es handelt sich beim digitalisierten Objekt also um eine neue ‚Repräsentation‘ des transformierten analogen Objekts mit fundamental anderen Eigenschaften und ‚Aneignungsmöglichkeiten‘. Für die Geisteswissenschaften sind daher die Entwicklung einer Digitalen Epistemologie und eine Verständigung darüber dringend notwendig. Die digitale Transformation oder Erstellung des Objekts steht am Beginn des (zumeist) iterativen Forschungsprozesses, in dessen Verlauf explorative, analysierende, annotierende, statistische und weitere Verfahren immer auf diese Daten zugreifen und sie ergänzen oder verändern. Aus der Organisation des Prozesses ergibt sich auch die Wechselbeziehung zwischen Bibliothek und DH.

5. Digital Humanities und Bibliotheken

Bibliotheken als Institutionen und die sie tragenden Personen setzen damit ihre Rolle für die und in den Forschungskulturen der Geisteswissenschaften unter digitalen Vorzeichen fort, erweitern sie und passen sie an. Sie sind zum einen Nachhaltigkeitspartner:innen in einer Reihe von Feldern: Institutionelle, technische oder technologische Nachhaltigkeit bieten sie durch die Organisation und den Betrieb von vertrauenswürdigen und möglichst zertifizierten generischen und fachspezifischen Repositorien, die (perspektivisch) mit weiteren Infrastrukturen vernetzt sind. Sie halten darüber hinaus spezifisches Expert:innenwissen mit informationswissenschaftlichen und juristischen Kompetenzen vor, vermitteln es aktiv und gezielt in die Forschungscommunities und engagieren sich in Beratung und Service. Zum anderen sind sie Forschungspartner, weil auch der Forschungsprozess im Digitalen sehr viel stärker noch an das digitale Forschungsobjekt gebunden beziehungsweise in das Objekt eingeschrieben ist, als dies für ein analoges Setting gelten mag. Die informationswissenschaftlichen Kompetenzen verbinden sich mit den fachspezifischen Anforderungen und Kompetenzen, wie sie sowohl bei erschließenden und bereitstellenden Forschungsvorhaben wie Editionen als auch bei analysierenden Vorhaben auf der Basis von Korpora und Sammlungen erforderlich sind. Die ‚Grenzen‘ zwischen Forschung und Infrastruktur werden damit noch fluider, wie die neuen Berufsbilder des Data Librarians oder Data Stewards bestätigen. (Neuroth, Rothfritz, Petras, & Kindling, 2019) Bibliothekskulturen sind daher auch im 21. Jahrhundert eng verwoben mit Wissenschafts- und Forschungskulturen und wie sie Teil und Gestalter der digitalen Transformation von Wissenschaft und Gesellschaft. (Stäcker, 2019)

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